Killinger Literaturkunde, Schulbuch

158 HEINRICH VON KLEIST (1777 – 1811) Der aus altem preußischen Adel stammende Heinrich von Kleist trat vor allem als Dramatiker (Der zerbrochne Krug 1803 – 1806, Prinz Friedrich von Homburg 1809 – 1811 u. a.), aber auch als Erzähler auf. Seine epischen Werke weisen dabei einen dramatischen Grundzug auf. Im Drama treten die Autorinnen und Autoren hinter ihre Figuren zurück, sie sprechen nirgendwo direkt zu uns. Jede Figur vertritt ihre Auffassung und sieht die Probleme von ihrem Standpunkt. Daraus erwächst der dramatische Konflikt. In Kleists Novellen vertreten die Figuren ebenfalls einander widersprechende Positionen und Werte. Nie sind sie eines Sinnes, nie greift die Erzählerin oder der Erzähler klärend ein, sodass der Leser selbst versuchen muss, die Wahrheit zu finden. Diese Erzähltechnik hängt mit Kleists Kant-Erlebnis zusammen. Der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) aus Königsberg (heute Kaliningrad, russische Enklave zwischen Polen und Litauen) hatte erklärt, die Erkenntnis des Menschen hänge von seinen Erkenntnismitteln, seiner Art der Wahrnehmung in Raum und Zeit und seinen Denkgesetzen ab. Deswegen sei es dem Menschen unmöglich, das „Ding an sich“ zu erkennen. Alle Menschen machen sich zwar das gleiche Bild von der Welt, aber es sei eben nur ein „Bild“. Über das Wesen des Dinges an sich können wir nichts aussagen. Kleist, der zunächst davon überzeugt war, dass der Mensch fähig sei, eine objektive Wahrheit zu erfassen, stürzte nach der Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft in eine tiefe Krise. Er hatte Kant jedoch missverstanden. Für Kleist war fortan objektive Erkenntnis nicht möglich. Die Verständigung der Menschen mit Hilfe der Sprache war für ihn problematisch geworden, weil jeder die Dinge von seinem Standpunkt, und das bedeutet: anders, sieht. Diese Überzeugung ist der Grund dafür, dass Kleist in seinen Dramen und Novellen immer wieder das wechselseitige Missverstehen der Menschen und ihr Verstummen gestaltet. Kleists episches Werk besteht aus Novellen, Erzählungen und Anekdoten. Die umfangreichste Novelle ist Michael Kohlhaas (1810), die Geschichte eines Rosshändlers, der wegen eines erlittenen Unrechts (ihm sind widerrechtlich Pferde beschlagnahmt worden) einen Privatkrieg beginnt, in dem er zum Räuber und Mörder wird, und schließlich am Galgen endet. Weitere Novellen sind: Das Erdbeben in Chili, Die Marquise von O. (1808), Die Verlobung in St. Domingo (1811), Das Bettelweib von Locarno (1810) u. a. Novelle Das Wort Novelle kommt aus dem Italienischen (novella) und bedeutet eigentlich (kleine) Neuigkeit (zu lat. novus). Die Novellendichtung ist stark von II Decamerone (entstanden um 1350) von Giovanni Boccaccio (1313 – 1375) beeinflusst. Sieben Damen und drei Herren flüchten vor der Pest aus Florenz auf ein entferntes Landgut. Zehn Abende hindurch erzählen die zehn Personen zehn Geschichten zum Zeitvertreib. Während sich die Novellendichtung in England, Frankreich und Spanien zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert reich entfaltete, begann sie sich im deutschen Sprachraum erst seit Goethe zu entwickeln. In der Romantik, im Biedermeier und zur Zeit des Realismus wird die Novelle sehr geschätzt. Im 20. Jahrhundert finden sich noch vereinzelt hervorragende Novellen. Ein äußeres Merkmal ist der Umfang: Die Novelle ist meist umfangreicher als eine Kurzgeschichte und kürzer als ein Roman. Die „mittlere Länge“ der Novelle hängt mit der in der Regel einsträngigen Handlung zusammen; das heißt, das Geschehen wird geradlinig vorangetrieben. Abschweifende Nebenhandlungen fehlen. Die Erzählerin oder der Erzähler zielt von Anfang an auf das Mittelpunktereignis ab. Alles steht in Beziehung zu diesem zentralen Geschehen. Goethe hat es die „unerhörte Begebenheit“ genannt. Dieses Mittelpunktereignis hat den Charakter des Neuen und Ungewöhnlichen. Kant: das „Ding an sich“ Boccaccio: Il Decamerone Straffe Entwicklung der Handlung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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