Killinger Literaturkunde, Schulbuch

HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 15 Dô si den hôhgemuoten vor ir stênde sach, Als sie den hochherzigen Mann vor sich stehen sah, dô erzunde sich sîn varwe diu schœne maget sprach: da übergoss glühende Röte sein Antlitz. Die schöne Jungfrau sagte: „sît willekomen, her Sîvrit, ein edel ritter guot.“ „Seid willkommen, Herr Siegfried, edler, trefflicher Ritter.“ dô wart im von dem gruoZe vil wol gehœhet der muot. Da ließ der Gruß sein Herz höher schlagen. Er neic ir flîZeclîche: bi der hende si in vie. Mit Hingabe verneigte er sich vor ihr: Sie aber ergriff seine Hand. wie rehte minneclîche er bî der frouwen gie! Wie lieblich er doch an der Seite Kriemhilds einherging! mit lieben ougen blicken ein ander sâhen an Mit freundlichen Blicken sahen sie einander an, der herre. und ouch diu frouwe: daZ wart vil tougenlîch getân. [...] der Ritter und die Dame: immer nur heimlich und verstohlen. [...] Bî der sumerzîte und gein des meien tagen Weder der Sommer noch der Frühling dorfte. er in sîme herzen nimmer mêr getragen hätten ihn so von Herzen glücklich machen können, wie es da geschah, sô vil der hôhen vreude denne. er dâ gewan, als das geliebte Mädchen, das er heimzuführen hoffte, dô im diu gie enhende die er ze trûte wolde hân. mit ihm Hand in Hand ging. 1. Vergleichen Sie Rollenzuschreibungen im obigen Text mit der Gegenwart: • Geben Sie wieder, was laut Text den Mann an einer Frau erfreut, und wie ihr äußeres Erscheinungsbild beschrieben wird. • Stellen Sie das Aussehen und Verhalten bei der Annäherung des prototypischen (beispielhaften) Ritters dar. • Erläutern Sie, in welcher Hinsicht sich diese Rollenbilder bis heute erhalten bzw. verändert haben. 2. Untersuchen Sie den Bedeutungswandel des Wortes „muot“ über die Jahrhunderte: • Recherchieren Sie die Bedeutung im Internet. • Beschreiben Sie, in welcher Bedeutung das Wort „muot“ hier Ihrer Meinung nach im Text verwendet wird. • Erläutern Sie, wie das Wort „Mut“ und seine Ableitungen heute verwendet werden. In Kriemhilds Traum von dem starken und schönen Falken, den ihr zwei Adler mit den Krallen zerreißen, klingt das Leitmotiv ihres Schicksals und des ganzen Nibelungenepos zum ersten Mal an: dass Liebe und Freude mit Leid bezahlt werden müssen. Immer wieder tauchen die Begriffe „liep“ (Liebe, Freude) und „leit“ (Leid, Schmerz) gemeinsam auf, als gehörten sie unbedingt zusammen: Sîvride dem herren wart beide liep unde leit. Dem Herrn Siegfried wurde abwechselnd warm und kalt ums Herz.1 dô truoc er ime herzen liep âne leit Und es lachte ihm das Herz in ungetrübter Freude2 292 Kriemhild begrüßt Siegfried 293 295 Liebe und Leid 1 Wörtliche Übersetzung: Dem Herrn Siegfried wurde sowohl Liebe als auch Leid zuteil. 2 Wörtliche Übersetzung: Da trug er im Herzen Liebe ohne Leid. 284, 4 291, 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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