DEUTSCHE KLASSIK | 1786 – 1805 149 sind. [...] Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muß: so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält. Eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht steht. Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er. [...] Wenn er sich äußerlich in jedem Momente seines Lebens zu beherrschen weiß, so hat niemand eine weitere Forderung an ihn zu machen, und alles übrige, was er an und um sich hat, Fähigkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein. [...] Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten; er darf überall vorwärtsdringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. 8. Diskutieren Sie Wilhelm Meisters Vorstellungen von Bildung aus heutiger Sicht: • Fassen Sie die Aussagen Wilhelm Meisters kurz zusammen. • Vergleichen Sie den Bildungsbegriff Wilhelm Meisters mit dem heutigen Verständnis von Bildung. • Kommentieren Sie, welches Gewicht das Bildungsideal Wilhelm Meisters in der heutigen Zeit hat und haben sollte. Erzählverhalten Die Geschichte Wilhelm Meisters ist in der Er/Sie-Form dargestellt: Sie wird von einem Erzähler mitgeteilt, der über dem Geschehen steht. Dieser Erzähler kennt alle Personen und ihr Innenleben; er weiß alles, was geschieht und geschehen wird, er ist sozusagen allwissend. Manchmal löst er sich aus dem Erzählzusammenhang und setzt sich mit den Leserinnen und Lesern in Verbindung, etwa wenn er sie anredet und ihnen seine Meinung von den Dingen im Präsens mitteilt. Man nennt eine solche Erzähltechnik auktoriales Erzählverhalten (lat. auctor = Urheber, Verfasser). Im Wilhelm Meister finden sich immer wieder Stellen von auktorialem Erzählverhalten (Gegensatz: personales Erzählverhalten, vgl. S. 443), etwa: Wenn die erste Liebe, wie ich allgemein behaupten höre, das Schönste ist, was ein Herz früher oder später empfinden kann, so müssen wir unsern Helden dreifach glücklich preisen, dass ihm gegönnt ward, die Wonne dieser einzigen Augenblicke in ihrem ganzen Umfange zu genießen. 25 30 35 40 Allwissender/auktorialer Erzähler Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==