Killinger Literaturkunde, Schulbuch

DEUTSCHE KLASSIK | 1786 – 1805 145 Zum Menschen sprach: Erlaubt ist, was gefällt. PRINZESSIN: Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei; Allein die Guten bringen sie zurück. Und soll ich dir gestehen, wie ich denke: Die goldne Zeit, womit der Dichter uns Zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war, So scheint es mir, so wenig, als sie ist; Und war sie je, so war sie nur gewiss, Wie sie uns immer wieder werden kann. Noch treffen sich verwandte Herzen an Und teilen den Genuss der schönen Welt; Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, Ein einzig Wort: Erlaubt ist, was sich ziemt. TASSO: O wenn aus guten, edlen Menschen nur Ein allgemein Gericht bestellt entschiede, Was sich denn ziemt! anstatt dass jeder glaubt, Es sei auch schicklich, was ihm nützlich ist. Wir sehn ja, dem Gewaltigen, dem Klugen Steht alles wohl, und er erlaubt sich alles. PRINZESSIN: Willst du genau erfahren, was sich ziemt, So frage nur bei edlen Frauen an. Denn ihnen ist am meisten dran gelegen, Dass alles wohl sich zieme, was geschieht, Die Schicklichkeit umgibt mit einer Mauer Das zarte, leicht verletzliche Geschlecht. Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie, Und wo die Frechheit herrscht, da sind sie nicht. Und wirst du die Geschlechter beide fragen: Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte. TASSO: Du nennest uns unbändig, roh, gefühllos? PRINZESSIN: Nicht das! Allein ihr strebt nach fernen Gütern, Und euer Streben muss gewaltsam sein. Ihr wagt es, für die Ewigkeit zu handeln, Wenn wir ein einzig nah beschränktes Gut Auf dieser Erde nur besitzen möchten Und wünschen, dass es uns beständig bliebe. Wir sind vor keinem Männerherzen sicher, Das noch so warm sich einmal uns ergab. Die Schönheit ist vergänglich, die ihr doch Allein zu ehren scheint. Was übrig bleibt, Das reizt nicht mehr, und was nicht reizt, ist tot. Wenn’s Männer gäbe, die ein weiblich Herz Zu schätzen wüssten, die erkennen möchten, Welch einen holden Schatz von Treu und Liebe Der Busen einer Frau bewahren kann; Wenn das Gedächtnis einzig schöner Stunden In euren Seelen lebhaft bleiben wollte; 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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