142 Unter Klassik versteht man inhaltlich ein Humanitäts- und Persönlichkeitsideal, formal eine Sprache mit hohem Anspruch und Dichtungen, die den antiken Mustern entsprechen und beispielgebend sind. Die Klassiker glaubten an die Fähigkeit des Menschen, sich durch Erziehung und Bildung zu einer harmonischen, in sich widerspruchsfreien Persönlichkeit entwickeln zu können. Das Bildungsmittel dafür sollte die Kunst sein. Nicht mehr die schöpferische Willkür des Originalgenies der Sturm-undDrang-Zeit, das sich keinem Gesetz, keiner Regel unterwirft, war das künstlerische Glaubensbekenntnis, sondern das Erkennen und Erfüllen der als zeitlos verstandenen objektiven Gesetze der Kunst. Diese Gesetze schienen den Klassikern in den Werken der Antike am besten verwirklicht. Goethe und Schiller waren – entsprechend dem Antikebild ihrer Zeit – überzeugt, dass die Menschen des klassischen Altertums ihr Leben heiter und glücklich gelebt haben. Geist und Natur, sittliches Verhalten und ungezwungene Sinnenhaftigkeit waren – ihrer Vorstellung nach – bei den Griechen keine Gegensätze, sondern bildeten eine beglückende Harmonie. Zu dieser Harmonie wollten die Klassiker den innerlich zerrissenen Menschen ihrer Zeit mit Hilfe der Kunst führen. Durch Einsicht in sein sittliches Tun soll sich der Mensch dem Ideal der Humanitas1 nähern. Was über die vergängliche Zeit hinaus Gültigkeit hat, wie die Idee der Humanität, das ist wahr. Wahr sind auch die Ausdrucksformen der Kunst, die sich über die Jahrhunderte hinweg als fruchtbar erwiesen haben. Epik, Lyrik und Dramatik sind nach Goethe „Naturformen“ der Dichtung. Um dem ewig Wahren, dem zeitlos Gültigen zu dienen, muss sich der Künstler „mit Geist und Fleiß“ (Goethe) an die Tradition binden. Das kann nicht ohne Selbstbeschränkung geschehen. Der klassische Dichter entsagt dem schrankenlosen Subjektivismus des Genies, das sich an seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit berauscht und sich nur sich selbst verpflichtet fühlt. Er entsagt dem ungebändigt überquellenden Gefühl, der ungezügelten Phantasie, den „Gedanken ohne Maß und Ordnung“ (Goethe, Torquato Tasso), weil nur der maßvolle, sich selbst zügelnde und beherrschende Mensch die Idee des Humanen verkörpert. Das Maß zu wahren, die in sich geschlossene und daher harmonische und schöne Form nicht zu sprengen, beständig zu sein in allen Wandlungen des Lebens, in allem Wechsel des Gefühls – das sind die Schranken für den klassischen Dichter. Aus seinen naturwissenschaftlichen Beobachtungen gewann Johann Wolfgang von Goethe die Einsicht, dass sich alles Lebendige „nach ewigen Gesetzen“ richtet. In jedem Samenkorn liegt die Kraft, zu einer in ihrer Art vollendeten Pflanze zu werden. Jedes Tier entwickelt sich gemäß dem Urbild, das die Natur als Form, als Idee bewahrt (Idealismus). Alles lebendige Sein ist also Sein in einer vorherbestimmten, genau umgrenzten Form. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich. Auch der Mensch kann sich nur dann dem Ideal nähern, wenn er das Gesetz seines Daseins erfüllt, nämlich Repräsentant der zeitlosen Idee des Humanen zu sein. Das bedeutet: seinen Mittelpunkt in sich selbst zu haben, innerlich ausgewogen zu sein, nach dem Gebot des sittlichen Gewissens zu handeln. Nur wer im Einklang mit dem ewigen Gesetz des humanen Daseins lebt, ist in Wahrheit frei. Das klassische Kunstwerk soll Ausdruck und Verkörperung der Schönheit und „frei von jeder Zeitgewalt“ (Schiller), also zeitlos gültig sein. Es hat die Idee des Humanen zum Inhalt. Ein Einzelschicksal, das in einem Drama dargestellt wird, steht exemplarisch für eine menschliche Ursituation. Iphigenie beispielsweise verkörpert den sich läuternden Menschen, der schließlich fähig wird, durch seine sittliche Tat „alle irdischen Gebrechen“ zu heilen. Neben Iphigenie auf Tauris und dem Künstlerdrama Torquato Tasso gelten einige Gedichte Goethes (besonders die Römischen Elegien) und einige Balladen (z. B. Die Braut von Korinth, Der Schatzgräber, Humanitäts- und Persönlichkeitsideal 1 Humanitas: Menschlichkeit Bindung an Gesetz und Maß Idee des Humanen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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