Killinger Literaturkunde, Schulbuch

141 IDEE DES HUMANEN Fast gleichzeitig entfaltete sich innerhalb weniger Jahrzehnte das geistige Leben im deutschsprachigen Raum in zwei umfassenden Systemen der Weltdeutung, der Kunstauffassung und der Lebensgestaltung: in Klassik und Romantik. Es waren die letzten Jahre des 18. und die ersten des 19. Jahrhunderts, eine politisch unruhige und spannungsreiche Zeit. Das bezeugt eine Reihe schriftlicher Dokumente, z. B. vier Zeilen aus einem Gedicht von Friedrich Schiller zur Jahrhundertwende: Friedrich Schiller: Der Antritt des neuen Jahrhunderts (1800) [...] Wo öffnet sich dem Frieden, Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, Und das neue öffnet sich mit Mord. Die deutsche Klassik orientierte sich an der griechischen und römischen Antike, die den Klassikern – im Gegensatz zur eigenen Epoche – als eine ideale Zeit erschien, in welcher der Mensch in „edler Einfalt und stiller Größe“ lebte. Dieses idealisierte Bild der Antike hatte der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) entworfen. Die antike Welt war in Europa nie ganz untergegangen. Nahezu jedes spätere Zeitalter hat sich mit ihr auseinandergesetzt, nahezu jeder Zeitabschnitt ist von der Antike beeinflusst: Die Denker und Theologen des Mittelalters wurden vor allem von der Philosophie des Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) geprägt; seit der Renaissance (15. Jahrhundert) wirkten die Werke griechischer und römischer Philosophen, Schriftsteller und Dichter auf das Geistesleben ein, griechische und römische Bauwerke und Plastiken auf die bildende Kunst. Die europäische Kultur ruht in wesentlichen Bereichen auf der Antike. Jede Zeit holt sich ihre Anregungen aus der antiken Kultur, jede Zeit formt sich ihr eigenes Bild von der Antike. Die deutsche Klassik umfasst den kurzen Zeitraum von Goethes erstem Aufenthalt in Rom (1786) bis zu Schillers Tod (1805). Als klassische Dichter bezeichnet man nur Goethe und Schiller. Das Wort „klassisch“ kommt als Qualitätsbegriff schon in der Antike vor. Es taucht im Mittelalter vereinzelt, seit der Renaissance und dem Humanismus häufig auf und bedeutet: mustergültig, beispielhaft. Zeitalter, Werke und Schriftsteller werden mit dem Wort „klassisch“ gekennzeichnet. Goethe und Schiller verwendeten das Wort hin und wieder, bezogen es aber nur auf die Antike. Sie verstanden sich selber nie als Klassiker und bezeichneten ihre Werke nicht als klassisch. Als Klassiker wurden sie erst von der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Ihre „vorbildhaften“ Werke waren neben denen antiker Schriftsteller das wesentliche Bildungsgut des humanistischen Gymnasiums. 2 4 Hinwendung zur Antike Begriff: Klassik DEUTSCHE KLASSIK 1786 BIS 1805 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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