Killinger Literaturkunde, Schulbuch

14 Dô sprach zuo dem künege der degen Ortwîn: Da sagte der Held Ortwin zum König: „welt ir mit vollen êren zer hôhgezîte sîn, „Wenn Ihr auf dem Fest den vollen Glanz Eurer Herrschaft zeigen wollt, sô sult ir lâZen schouwen diu wünneclîchen kint, dann dürft Ihr den Gästen den Anblick der schönen Mädchen, die mit sô grôZen êren hie zen Burgonden sint. den Stolz des Burgundenlandes, nicht vorenthalten. WaZ wære mannes wünne, des vreute sich sîn lîp, Was könnte einen Mann glücklich machen, was ihn erfreuen, eZ entæten schœne mägede und hêrlîchiu wîp? wenn nicht die Schönheit der Mädchen und der Glanz der Damen? lâZet iuwer swester für iuwer geste gân.“ Lasst auch Eure Schwester vor den Gästen erscheinen.“ der rât was ze liebe vil manegem helde getân. Dieser Rat entsprach genau den Wünschen zahlreicher Helden. „Des wil ich gerne volgen“, sprach der künec dô. „Ich will es gerne veranlassen“, sagte da der König. alle dieZ erfunden, die wârens harte vrô. Und die es hörten, freuten sich sehr. er enbôt eZ frouwen Uoten und ir tohter wol getân, Er ließ es der Herrin Ute und ihrer schönen Tochter ausrichten, daZ si mit ir mageden hin ze hove solde gân. [...] dass sie in Begleitung ihrer Jungfrauen bei Hofe erscheinen möchten. [...] Nu gie diu minneclîche alsô der morgenrôt Wie das Morgenrot aus den trüben Wolken hervortrat, so schritt tuot ûZ den trüeben wolken. dâ schiet von maneger nôt das liebliche Mädchen nun einher, und alsbald lösten sich in Siegfried, der si dâ truoc in herzen und lange het getân: der ihr Bild heimlich im Herzen trug und nun schon lange getragen hatte, alle Liebesqualen: er sach die minneclîchen nu vil hêrlîchen stân. [...] In allem Glanz sah er das liebliche Mädchen vor sich stehen. [...] Sam der liehte mâne vor den sternen stât, So wie der helle Mond, der so rein aus den Wolken herausleuchtet, des schîn sô lûterlîche ab den wolken gât, die Sterne überstrahlt, dem stuont si nu gelîche vor maneger frouwen guot. so stand sie nun vor den vielen anderen trefflichen1 Frauen. des wart dâ wol gehœhet den zieren helden der muot. [...] Den stattlichen Helden schlug bei ihrem Anblick das Herz höher. [...] Er dâhte. in sînem muote „wie kunde daZ ergân Er dachte bei sich: „Wie könnte ich nur deine Liebe gewinnen? daZ ich dich minnen solde? daZ ist ein tumber wân. Ich glaube, das ist eine törichte2 Erwartung. sol aber ich dich vremeden, sô wære. ich sanfter tôt.“ Wenn ich dich jedoch meiden sollte, dann wäre es besser, ich wäre tot.“ er wart von den gedanken vil dicke bleich unde rôt. [...] Bei diesen Überlegungen wechselte immer wieder seine Gesichtsfarbe. [...] 1 trefflich: vorzüglich 2 töricht: dumm, einfältig 273 274 275 281 283 285 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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