Killinger Literaturkunde, Schulbuch

HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 13 DAS HELDENEPOS AM BEISPIEL DES NIBELUNGENLIEDES Mit dem Wort „Epos“ bezeichnet man eine Großform erzählender Dichtung in Versen, die ursprünglich mündlich vorgetragen und überliefert wurde. Das Epos gehört zu den ältesten Formen der Dichtung vieler Kulturvölker; es entwickelte sich in einer kriegerisch-aristokratischen Gesellschaft und thematisiert die Lebensgewohnheiten und Ideale des Adels. Im Mittelpunkt der meisten älteren Epen steht der typisierte Held, der Vorbild für die Zuhörenden sein soll (Achill in Homers Ilias und Odysseus in der Odyssee). Die deutsche ritterlich-höfische Dichtung um 1200 hat zwei Formen des Epos hervorgebracht: das Heldenepos und das höfische Epos. Das Heldenepos bearbeitet germanische Heldenlieder aus der Völkerwanderungszeit, die – bis auf das Hildebrandslied – verloren gegangen sind. Die Heldenepen haben einen historischen Kern, der durch die jahrhundertelange mündliche Weitergabe und die verschiedenen Bearbeitungen der Stoffe stark zurückgedrängt wurde. Dies bezeugt vor allem das bekannteste mittelhochdeutsche Heldenepos, das Nibelungenlied. Sein Verfasser, ein unbekannter Dichter aus dem österreichischen Donautal, verweist in der einleitenden Strophe auf seine Quellen: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet von helden lobebæren, von grôZer arebeit, von ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von glücklichen Tagen und Festen, von Schmerz und Klage, von küener recken strîten, muget ir nu wunder hoeren sagen. vom Kampf tapferer Recken (Ritter), davon könnt auch Ihr jetzt Wunderbares berichten hören. Im Nibelungenepos sind zwei ursprünglich voneinander unabhängige Stoffe zu einer Einheit verwoben: die Sage von Siegfried und Brünhilde, in der mythische Vorstellungen überwiegen, und der Untergang der Burgunden unter ihrem König Gunthari (Gunther) im Kampf gegen die Hunnen im 5. Jahrhundert. Das Nibelungenlied ist in 39 „Âventiuren“ (= Erzählabschnitte) und eine abschließende Klage gegliedert. Dieser letzte Abschnitt bietet eine Deutung des Gesamttextes. Wie Siegfried Kriemhild zum ersten Mal sah Die folgende Textprobe stammt aus der 5. Âventiure „Wie Sîfrit Kriemhilt êrste gesach“. Siegfried ist schon ein volles Jahr bei den Burgunden in Worms, hat aber Kriemhild noch nie gesehen. Da lässt König Gunther aus Freude über den Sieg, den die Burgunden dank Siegfrieds Hilfe über die Sachsen und Dänen erringen konnten, ein Hoffest („hôchgezît“) veranstalten. 32 Fürsten kommen mit ihrem Gefolge zum Fest nach Worms geritten. An einem pfinxtmorgen sach man füre gân, Am Morgen des Pfingstfestes konnte man viele tapfere Helden, gekleidet wünneclîche, vil manegen küenen man, schön gekleidet zum Fest kommen sehen, fünf tûsent oder mêre, dâ zer hôhgezît. es waren wohl fünftausend oder sogar noch mehr. sich huop diu kurzewîle an manegem ende wider strît. [...] Sie begannen untereinander zu wetteifern, wer sich am besten unterhielt. [...] Die Form des Epos Heldenepos 2 4 Siegfried-Sage Burgunden-Sage 271 Das Hoffest Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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