Killinger Literaturkunde, Schulbuch

STURM UND DRANG | 1770 – 1785 123 KAMMERDIENER: Ja, gnädige Frau, warum musstet Ihr denn mit unserem Herrn gerad auf die Bärenhatz1 reiten, als man den Lärm zum Aufbruch schlug? – Die Herrlichkeit hättet Ihr doch nicht versäumen sollen, wie uns die gellenden Trommeln verkündigten, es ist Zeit, und heulende Waisen dort einen lebendigen Vater verfolgten, und hier eine wütende Mutter lief, ihr saugendes Kind an Bajonetten zu spießen, und wie man Bräutigam und Braut mit Säbelhieben auseinander riss und wir Graubärte verzweiflungsvoll dastanden und den Burschen auch zuletzt die Krücken noch nachwarfen in die Neue Welt. Oh, und mitunter das polternde Wirbelschlagen2, damit der Allwissende uns nicht sollte beten hören – LADY (steht auf, heftig bewegt): Weg mit diesen Steinen – sie blitzen Höllenflammen in mein Herz. (Sanfter zum Kammerdiener.) Mäßige dich, armer alter Mann. Sie werden wiederkommen. Sie werden ihr Vaterland wiedersehen. KAMMERDIENER (warm und voll): Das weiß der Himmel! Das werden sie! – Noch am Stadttor drehten sie sich um und schrien: „Gott mit euch, Weib und Kinder! – Es leb’ unser Landesvater – am Jüngsten Gericht sind wir wieder da!“ – LADY (mit starkem Schritt auf und nieder gehend): Abscheulich! Fürchterlich! – Mich beredete man, ich habe sie alle getrocknet, die Tränen des Landes. Schrecklich, schrecklich gehen mir die Augen auf. Geh du, sag deinem Herrn – Ich werd’ ihm persönlich danken. (Kammerdiener will gehen, sie wirft ihm ihre Geldbörse in den Hut.) Und das nimm, weil du mir die Wahrheit sagtest – KAMMERDIENER (wirft sie verächtlich auf den Tisch zurück): Legt’s zu dem Übrigen. (Er geht ab.) LADY (sieht ihm erstaunt nach): Sophie, spring ihm nach, frag ihn um seinen Namen. Er soll seine Söhne wiederhaben. [...] 19. Setzen Sie sich mit diesem Abschnitt aus Kabale und Liebe auseinander: • Zeigen Sie auf, wie hier der Herzog seine Machtposition auf Kosten seiner Untergebenen ausnützt. • Charakterisieren Sie Lady Milford und den Kammerdiener. • Erörtern Sie, was mit dieser Stelle über den höfischen Absolutismus und die Reaktion des einfachen Volkes darauf ausgesagt wird. 20. Stellen Sie Vermutungen an, welche Wirkung dieser Text auf die Zeitgenossen Schillers gehabt haben könnte. 21. Erläutern Sie, welche Einflussmöglichkeiten Schriftstellerinnen und Schriftstellern in der heutigen Zeit zur Verfügung stehen, um gesellschaftliche Missstände zu thematisieren. 55 60 65 70 1 Bärenhatz: Bärenjagd 2 Wirbelschlagen: Trommelwirbel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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