Killinger Literaturkunde, Schulbuch

112 Kurz darauf erfuhr er von Kestner vom Selbstmord seines Wetzlarer Bekannten Karl Wilhelm Jerusalem, der sich aus unüberwindlicher Neigung zu einer verheirateten Frau erschossen hatte. Goethe war zutiefst betroffen. Er fühlte sich erst nach der Niederschrift des Romans „wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt“. Noch im Erscheinungsjahr des Romans (1774) erfasste ein wahres Werther-Fieber die bürgerliche Jugend: „Manche Leser glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln“ und „einen solchen Roman nachspielen“ (Goethe). Unglücklich Liebende fühlten sich als Werther und kleideten sich wie dieser, ja es gab sogar Selbstmorde, die so ausgeführt wurden, wie es der Roman beschreibt. Der Werther-Stil wurde vielfach in Liebesromanen kopiert und manche hatten noch größeren Erfolg als Goethes Werk. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Aufsehen erregenden Werk förderte nicht nur Bewunderung, sondern auch Zweifel und Ablehnung zutage. Lessing schreibt in einem Brief an Johann Joachim Eschenburg im Oktober 1774: Haben Sie tausend Dank für das Vergnügen, welches Sie mir durch Mitteilung des Göthischen Romans gemacht haben. Ich schicke ihn noch einen Tag früher zurück, damit auch andere dieses Vergnügen je eher je lieber genießen können. Wenn aber ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll: meinen Sie nicht, dass es noch eine kleine kalte Schlussrede haben müsste? Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen; wie ein andrer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich davor zu bewahren habe. Denn ein solcher dürfte die poetische Schönheit leicht für die moralische nehmen und glauben, dass der gut gewesen sein müsse, der unsre Teilnehmung so stark beschäftigt. Und das war er doch wahrlich nicht. Christian Friedrich Daniel Schubart in: Deutsche Chronik, 72. Stück (5. Dezember 1774): Da sitz’ ich mit zerflossnem Herzen, mit klopfender Brust und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag Dir, Leser, dass ich eben die ,Leiden des jungen Werthers’ von meinem lieben Goethe – gelesen? – nein, verschlungen habe. Kritisieren soll ich? Könnt’ ich’s, so hätt’ ich kein Herz. Göttin Critica steht ja selbst vor diesem Meisterstück des allerfeinsten Menschengefühls aufgetaut da. Johann Melchior Goeze in: Freiwillige Beiträge zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (4. April 1775, auch als Sonderdruck. Hamburg 1775): Einem jeden Christen, der für das Wort des Heilandes „Ich sage euch, wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen“ (Matth. 5,28) noch einige Ehrerbietung hat, der die Worte des heiligen Johannes „Wir wissen, dass ein Totschläger nicht hat das ewige Leben“ (1. Joh. 3,15) als einen Lehrsatz ansiehet, [...] muss notwendig das Herz bluten, wenn er „Die Leiden des jungen Werthers“ lieset [...] Man bedenke um Gottes willen, wie viele unsrer Jünglinge mit Werthern in gleiche Umstände geraten können und solches insbesonderheit in der gegenwärtigen Epoche, da es als höchste Weisheit angesehen wird, junge Seelen nicht sowohl durch Gründe der Religion in eine recht christliche Fassung zu setzen als vielmehr dieselben mit lauter phantastischen Bildern anzufüllen und die Empfindungen in ihnen weit über ihre Grenzen hinaus zu treiben. Zur Rezeptionsgeschichte Zeitgenössische Kritik 5 10 5 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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