Killinger Literaturkunde, Schulbuch

STURM UND DRANG | 1770 – 1785 111 Am 30. August. Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? Betrügst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glückliche Stunde – bis ich mich wieder von ihr losreißen muss! Ach Wilhelm! wozu mich mein Herz oft drängt! – Wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe und nun nach und nach alle meine Sinne aufgespannt werden, mir es düster vor den Augen wird, ich kaum noch höre und es mich an die Gurgel fasst wie ein Meuchelmörder, dann mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen sucht und ihre Verwirrung nur vermehrt – Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und – wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen, – so muss ich fort, muss hinaus, und schweife dann weit im Felde umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir’s etwas besser! Etwas! Und wenn ich vor Müdigkeit und Durst manchmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze, um meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem Dämmerschein hinschlummre! O Wilhelm! die einsame Wohnung einer Zelle, das härene Gewand und der Stachelgürtel wären Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu! Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab. Schlussendlich nimmt die Geschichte einen tragischen Verlauf. In seinem Abschiedsbrief an Lotte bittet Werther, man möge ihn in der Kleidung begraben, die er bei den Besuchen im Hause ihres Vaters immer trug. In dieser Kleidung fand man auch den Sterbenden, „gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste“. 6. Setzen Sie sich mit diesen Textausschnitten auseinander: • Geben Sie die Themen, um welche sich Werthers Denken kreist, wieder. • Analysieren Sie, zwischen welchen extremen Stimmungen er schwankt und wie dies sprachlich dargestellt wird (Natur, Emotionen). • Untersuchen Sie die besonderen Charakteristika eines Briefromans. • Beurteilen Sie das Verhalten Werthers als Vertreter seiner Zeit. 7. Erstellen Sie anschließend in Kleingruppen einen Chat-Verlauf zwischen Lotte und Werther. Wie würden sie in der Gegenwart miteinander kommunizieren? Die Entstehung eines poetischen Werkes ist unter anderem von biographischen und historischen Bedingungen abhängig, also von den Erlebnissen des Autors und seiner Situation, aber auch von den geistigen und künstlerischen Strömungen der Zeit, von den politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnissen. Für die Entstehung des Werther waren mehrere biographische Fakten ausschlaggebend: 1772 ging Goethe als 23-jähriger Jurist ans Reichskammergericht in Wetzlar. Dort lernte er den Sekretär Kestner kennen. Er führte Goethe im Haus des Amtmannes Buff ein, mit dessen Tochter Charlotte er verlobt war und in die sich Goethe verliebte. Als ihm klar wurde, dass das Verhältnis von seiner Seite „leidenschaftlicher als billig1 geworden“ war und ein Konflikt aller Beteiligten unabwendbar schien, riss er sich von Lotte los und verließ heimlich die Stadt. 40 45 50 55 60 Zur Produktionsgeschichte 1 billig: angemessen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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