Killinger Literaturkunde, Schulbuch

106 Johann Wolfgang von Goethe: Willkommen und Abschied (1771) Über die Vorgeschichte dieses Textes berichtet Goethe Jahrzehnte später in Dichtung und Wahrheit, seiner Autobiographie: Ich [...] eilte was ich konnte, ein Pferd zu bestellen und mich sauber herauszuputzen [...] ich kam nicht so früh weg, als ich gehofft hatte. So stark ich auch ritt, überfiel mich doch die Nacht. Der Weg war nicht zu verfehlen, und der Mond beleuchtete mein leidenschaft liches Unternehmen. Die Nacht war windig und schauerlich, ich sprengte zu, um nicht bis morgen früh auf ihren Anblick warten zu müssen. Fassung von 1771 Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde! Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht. Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht. Schon stund im Nebelkleid die Eiche Wie ein getürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah schläfrig aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr. Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, Doch tausendfacher war mein Mut, Mein Geist war ein verzehrend Feuer, Mein ganzes Herz zerfloss in Glut. Ich sah dich, und die milde Freude Floss aus dem süßen Blick auf mich. Ganz war mein Herz an deiner Seite, Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbes Frühlingswetter Lag auf dem lieblichen Gesicht Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht. Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! Aus deinen Blicken sprach dein Herz. In deinen Küssen welche Liebe, O welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stund und sah zur Erden Und sah dir nach mit nassem Blick. Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück! Fassung von 1827 Es schlug mein Herz; geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh’ gedacht; Der Abend wiegte schon die Erde Und an den Bergen hing die Nacht: Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer; Doch frisch und fröhlich war mein Mut: In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut! Dich sah ich, und die milde Freude Floß von dem süßen Blick auf mich; Ganz war mein Herz an deiner Seite Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Umgab das liebliche Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich – Ihr Götter! Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht! Doch ach schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz: In deinen Küssen, welche Wonne! In deinem Auge, welcher Schmerz! Ich ging, du standst und sahst zur Erden, Und sahst mir nach mit nassem Blick: Und doch, welch Glück geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! 2 4 Textvarianten 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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