Killinger Literaturkunde, Schulbuch

104 Johann Georg Hamann (1730 – 1788) verkündete, dass die schöpferische Kraft der Eingebung, die Phantasie, mehr bedeute als die Vernunft. Nicht der Verstand, sondern Ahnung und Gefühl seien die Organe, mit denen man die göttliche Sprache verstehe. Die Sprache ist göttlichen Ursprungs und der Dichter das Sprachrohr, mit dem sich Gott der Welt verständlich macht. Hamanns Schüler Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) vermittelte den jungen Dichtern das neue, vom Gefühl bestimmte Gott- und Welterlebnis und die Gedanken über Ursprung und Wesen der Sprache. Er war ein bedeutender Denker und Anreger und hatte ein außergewöhnlich feines Einfühlungsvermögen für das Wesen fremder Sprachen und die Anziehungskraft ihrer Dichtungen. Er übersetzte nordische Lieder, englische Balladen, aber auch spanische Romanzen ins Deutsche und begründete damit die Weltliteratur in deutscher Sprache. Die von ihm erstellte Volksliedsammlung nannte er Volkslieder nebst untermischten anderen Stücken (1778/79), die ab 1807 unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern erschien. 1770 kam Herder nach Straßburg, wo ihn der 21-jährige Student Johann Wolfgang von Goethe1 (1749 – 1832) kennen lernte und in der Folge eine Fülle von Anregungen von ihm erhielt. ERLEBNISLYRIK Goethes Straßburger Gedichte (Friederikenlieder) sind aus dem intensiv erlebten Augenblick entstanden, also spontane Äußerungen, die ursprünglich nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren. Der junge Dichter hatte im Dorf Sessenheim bei Straßburg die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen gelernt, die beiden verliebten sich ineinander. Er gab seinen Erlebnissen sprachliche Gestalt, um sein Glücksgefühl der Geliebten mitteilen zu können. Man nennt diese Art Gedichte Erlebnislyrik. Neu an dieser Form der Lyrik ist das Verhältnis des Menschen zur Natur. Die Vorgänge in der Natur (z. B. die sonnige Landschaft am Morgen, die blühenden Sträucher, die Blumen im Feld) werden zu Sinnbildern (Symbolen, vgl. S. 235) der subjektiven Befindlichkeit. Das lyrische Ich (die fiktive Stimme im Text) und die Natur entsprechen einander. Der Dichter projiziert seine augenblickliche Stimmung in die Natur, um sie aus ihr wieder herauszulesen. Im Gedicht spricht sich das fühlende Ich in Bildern und Symbolen aus, die der Natur entlehnt sind. Diese Erlebnislyrik wurde viele Jahrzehnte lang zum Inbegriff der Lyrik überhaupt. Johann Wolfgang von Goethe: Maifest (ca. 1771) Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch Herder als Anreger Weltliteratur in deutscher Sprache 1 Johann Wolfgang von Goethe: ab 1782 „von“ Goethe Joseph Karl Stieler (1781 – 1858), Johann Wolfgang von Goethe, 1828. Entsprechung von Ich und Natur 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==