Killinger Literaturkunde, Schulbuch

STURM UND DRANG | 1770 – 1785 103 Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich zeitlebens ihm eigen [...] Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Das Drama des Sturm und Drang bevorzugt die Prosa, weil der Stil des Originalgenies keine Gebundenheit der Sprache duldet. Die grammatischen Regeln des Satzbaus werden häufig nicht beachtet, die Figuren sprechen in halben Sätzen, in Ausrufen und einzelnen Worten (expressiver Stil). Es ist das erklärte Ziel der Stürmer und Dränger, die literarische Sprache von ihren Fesseln zu befreien. Die Lyrik wird vor allem beim jungen Goethe zur Erlebnisdichtung (vgl. S. 104ff.). Das Lied löst das formstrenge Gedicht ab; das Volkslied wird entdeckt und wirkt auf die Kunstdichtung (Goethe, Heideröslein). Neben der liedhaften Erlebnisdichtung steht die Gedankenlyrik in freien Rhythmen (zum Beispiel: Goethe, Prometheus) und die politische Lyrik (vgl. S. 107ff. und 113ff.). Einen großen Einfluss übten die Lieder Ossians auf die jungen Dichter aus (vgl. S. 32). Die „schottische Welle“ brachte die deutsche Kunstballade hervor (Gottfried August Bürger, Lenore u. a.). Die erzählende Dichtung ist im Sturm und Drang nicht so stark vertreten wie die anderen Gattungen. Der Roman der Zeit fand seine Ausformung in England und Frankreich. Man erzählte keine ereignisreichen Geschichten, sondern stellte die seelischen Regungen eines empfindsamen Menschen dar. Besonders beliebt waren die Formen des Tagebuchs und des Briefes bzw. des Briefromans, weil sich hier die Selbstanalyse der feinen Empfindung vollziehen konnte. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) hatte nicht zuletzt deswegen einen so außerordentlichen Erfolg, weil er den Vorstellungen und Wünschen der Leserinnen und Leser genau entsprach. Mehr dazu auf S. 109ff. VORLÄUFER UND ANREGER DES STURM UND DRANG Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803) lebt als Erster aus dem Gefühl heraus, zum Dichter berufen und Verkünder außerordentlicher Erfahrungen zu sein. Denn Dichten ist für ihn eine Form der Wahrnehmung und Deutung dieser Welt. Was im genialen Schaffensprozess ausgesprochen wird, ist ihm tiefere Wahrheit als die rein verstandesmäßig gewonnene Erkenntnis. In der ersten Strophe der Ode Der Zürchersee (1750) feiert Klopstock den Menschen als zweiten Schöpfer: Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den grossen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt. Ode Die aus dem Griechischen stammende Form der Ode bezeichnet ein strophisch gegliedertes Gedicht über ein hohes Thema (z. B. Freundschaft, Liebe, Natur), geschrieben in einer feierlichen, gefühlsstarken Sprache. Die Ode – in freien Rhythmen oder in einem griechischen Versmaß abgefasst – erweckt stets den Eindruck des Festlichen. 2 4 Lyrische Formen Empfindsamer Roman Dichterisches Sendungsbewusstsein 2 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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