101 STURM UND DRANG ETWA 1770 BIS 1785 NEUES LEBENSGEFÜHL Die Dichter des Sturm und Drang führten in manchem die Ideen der Aufklärung (teilweise radikaler) fort (z. B. in der Kritik am Feudalismus), gerieten jedoch in ganz entscheidenden Fragen in Widerspruch zur Vätergeneration (z. B. in Bezug auf die Bedeutung der Vernunft). Der Begriff Sturm und Drang wurde vom gleichnamigen Theaterstück von Friedrich Maximilian Klinger (1752 – 1831) übernommen, das ursprünglich den Titel Wirrwarr (1776 – 77) trug. Träger der neuen Bewegung waren meist Studenten, die aus dem Kleinbürgertum kamen; nur Johann Wolfgang von Goethe stammte aus einem wohlhabenden Patrizierhaus. Diese Jugend setzte in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts zum Angriff auf die Werte der Aufklärung an und wandte sich gegen die Vernunft und Zweckmäßigkeit. Dafür wurden nun neue Ideale in den Mittelpunkt gerückt: Freiheit, Genie, Natur, Gefühl. Der Begriff der Freiheit wurde sehr verschieden ausgelegt. Man konnte ihn zum Beispiel politisch verstehen: Abschaffung der Vorrechte des Adels, Beseitigung der Willkürherrschaft der Fürsten. In diesem Sinne konnte Goethes Götz von Berlichingen verstanden werden, wenn er ausrief: „Himmlische Luft! – Freiheit! Freiheit!“ Schiller ließ auf das Titelblatt der Räuber (1781) seines ersten Dramas, „In tirannos“ (gegen die Tyrannen) drucken. Schubart, der zehn Jahre ohne Prozess vom württembergischen Herzog gefangen gehalten wurde, klagte die Fürsten an, dass sie „Hunde nur und Pferd’ und fremde Dirnen / mit Gnade lohnten, und Genie / und Weisheit darben ließen“. Das Wort Freiheit wurde auch als persönliche Freiheit des Genies verstanden, des Menschen, der den Durchschnitt überragt. Ein „Originalgenie“ (gängige Bezeichnung für die Künstler des Sturm und Drang) steht unter eigenen Gesetzen. „Was ist Genie?“, fragt Johann Caspar Lavater (1741 – 1801), ein Schweizer Theologe und Schriftsteller, und er antwortet: Wo Wirkung, Kraft, That, Gedanke, Empfindung ist, die von Menschen nicht gelernt und nicht gelehrt werden kann – da ist Genie. Genie – das allerkennbarste und unbeschreiblichste Ding! Fühlbar, wo es ist, und unaussprechlich wie die Liebe. Ein Genie ist für Lavater der „Aussprecher unaussprechlicher Dinge“, das „Licht der Welt“. Das Genie hat alles sich selber zu verdanken. Im vollen Bewusstsein der jugendlichen Kraft und als Ausdruck seines Selbstgefühls lässt Goethe seinen Prometheus sagen: „Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ Wie sehr sich das Genie in Tätigkeiten versprüht, zeigt eine Stelle aus einem Brief Goethes vom März 1775: Heut war der Tag wunderbar. Habe gezeichnet – eine Szene geschrieben. O, wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe, ich ging zugrund. Begriff: Sturm und Drang Politische Freiheit Persönliche Freiheit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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