Mathematik verstehen 6, Schulbuch

252 12 WAHRSCHEINLICHKEITEN Längenbegriff Wahrscheinlichkeitsbegriff 1 In der Physik wird nicht gesagt, was eine Länge ist, sondern es werden nur Methoden (Vorschriften) angegeben, wie man Längen ermitteln kann. Wir haben nicht genau definiert, was eine Wahrscheinlichkeit ist, sondern nur Methoden (Vorschriften) angegeben, wie man Wahrscheinlichkeiten ermitteln kann (relativer Anteil, relative Häufigkeit bzw. subjektives Vertrauen). 2 Verschiedene Methoden der Längenmessung können zu verschiedenen Ergebnissen führen. Verschiedene Methoden der Wahrscheinlichkeitsermittlung können zu verschiedenen Ergebnissen führen. (Die Unterschiede sind jedoch meist größer als bei der Längenmessung.) 3 Längenangaben sind stets unsicher. Kein Messinstrument bzw. Messvorgang ist perfekt. Neue Messungen können zu abweichenden Resultaten führen. Oft kann man Längen nur schätzen. Wahrscheinlichkeitswerte sind stets unsicher. Relative Anteile sind unsicher, weil kein realer Zufallsversuch lauter chancengleiche Ausgänge garantieren kann. Relative Häufigkeiten sind unsicher, weil neue Versuchsreihen meist zu abweichenden Resultaten führen. Eine Wahrscheinlichkeitsbewertung auf Grund subjektiven Vertrauens ist naturgemäß extrem unsicher. 4 Längenangaben hängen vom Informationsstand ab. Wenn man zum Beispiel weiß, dass ein Entfernungsmesser stets etwas zu hohe Werte anzeigt, kann man das Messergebnis entsprechend nach unten korrigieren. Wahrscheinlichkeitswerte hängen stets vom Informationsstand ab. Bei zusätzlichen Informationen wird eine Wahrscheinlichkeitsangabe im Allgemeinen korrigiert. Im Grunde ist jede Wahrscheinlichkeit eine bedingte Wahrscheinlichkeit. 5 Ob es objektive Längen („wahre Längenwerte“) gibt, ist umstritten. In der heutigen Physik geht man davon aus, dass viele Größen grundsätzlich nicht genau bestimmbar sind und sich insbesondere durch den Messvorgang ändern (zB die Temperatur einer Flüssigkeit durch Eintauchen eines Thermometers.) „Wahre Längenwerte“ sind bestenfalls nützliche Fiktionen. Unterschiedliche Werte bei verschiedenen Messungen können als „Messfehler“ interpretiert werden. Ob es objektive Wahrscheinlichkeiten („wahre Wahrscheinlichkeitswerte“) gibt, ist umstritten. In dieser Frage scheiden sich die Geister. Die „Objektivisten“ glauben an objektive Wahrscheinlichkeiten, die „Subjektivisten“ halten Wahrscheinlichkeiten grundsätzlich für subjektive Annahmen. „Wahre Wahrscheinlichkeitswerte“ sind bestenfalls nützliche Fiktionen. Unterschiedliche Wahrscheinlichkeitswerte können durch die Einbeziehung unterschiedlicher Informationen erklärt werden. Hinter all diesen Überlegungen verbirgt sich nichts anderes als die Problematik einer mathematischen Modellbildung. Einem realen Ereignis eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen bedeutet, eine Beziehung zwischen der außermathematischen Realität und einem mathematischen Modell anzugeben. Derartige Beziehungen können aber nie mit innermathematischer Genauigkeit erfasst werden. Sie sind immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet und können oft nicht präzise beschrieben werden. Mehr noch: Man ist sich nicht sicher, ob ein Begriff des Modells (zB Zufall) überhaupt eine Entsprechung in der außermathematischen Realität hat. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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