erleben und gestalten 3 - Geschichte und politische Bildung, Schulbuch

14 Frühe Neuzeit Individuum Entdeckung des „Individuums“ In unserer heutigen Gesellschaft wird anerkannt, dass jede und jeder so leben darf, wie sie oder er es möchte. Wir sprechen von „Individualismus“. Das war aber nicht immer so: Bis in die Neuzeit wurde jedem Menschen eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zugedacht. Wenn man sich nicht so verhielt wie vorgesehen, konnte man leicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Das betraf beispielsweise Menschen, die nicht heiraten wollten oder Widerstand gegen die Kirche leisteten. Ab der Zeit des Renaissance-Humanismus (Beginn 15. Jh.) wurden diese festen Rollen zunehmend infrage gestellt. Die Menschen begannen sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Persönliche Verwirklichung rückte ins Zentrum. Daher nahmen die Menschen Einschränkungen und Unterdrückung nicht mehr ohne Widerspruch in Kauf. Auch Kunst und Wissenschaft widmeten sich dem Menschen als Individuum. Ab der Renaissance wuchs das Interesse an individuellen Porträts. Vor allem Adelige, Bankiers oder Kaufleute ließen sich darstellen. Schriftliche Selbstzeugnisse In der Neuzeit begannen die Menschen vermehrt, über sich selbst (z.B. Tagebücher) oder ihre Familie (z.B. Familienchroniken) zu schreiben. Seit dem Spätmittelalter waren Haus- und Familienbücher gebräuchlich, in denen oft über viele Generationen hinweg Geburten, Taufen, Hochzeiten und Todesfälle eingetragen wurden. Auch Angaben zu Wetter, Ernten, Einkünften und Ausgaben sowie Segenssprüche wurden notiert. Im folgenden Ausschnitt aus dem „Schreibebuch“ der wohlhabenden Familie Caließ aus Brandenburg (Norddeutschland) berichten Johann Christian Caließ sen. und jun. über ihre tägliche Arbeit, ihre Familie und wichtige Ereignisse in der Zeit zwischen 1772 und 1841. […] Den 17. ist Mein alter Fetter Johann Friderich Calies gestorben und den 20 ten begraben; sein alter 75 Jahr 10 Monat und 13 Tage, 1816 im september. Den 11. Juli hat das gewitter bei der Witwe Kemnitzen Eingeschlagen in den Kuhstal, 1813, nachmitag 4 Uhr. Den 21. selben mohnaths habe ich Ein neuhe Kripe in Pferdestal, eine Eichen, reingebracht; sie kostet 6 r kurand. […] Den 25. Mertz ist mein schwager soldat geworden; sein Name Johann Friderich Jansen, 1815. Den 5. Janniwari ist meine schwegerin ihre hochzeit gewesen. Ihr Man heist Schlöweke, ein schiffer in Zedenik, sie heist Maria Hinrieta Jansen, 1813. Den 20. Februari sind die Rusen in Oranicnburch gekommen, 6 000 Mann, 1813. […] Den 24. und 25 ten may Anno 1781 ist Alles Ferfruren; habe das Jahr gekoft: Erstens 12 scheffel Rogen [Roggen], scheffel 1 thl [Taler] 8 g [Groschen], m[acht] 16 thl. 2 tens 16 scheffel Fur 22 thl 9 g, Rogen. 3 tens 7 scheffel Rogen Fur 10 thl 12 g. […] 6 tens l sach Mehl Aus Berlin Fur 5 thl. […] Daß Bluth Jesu Christi, des Sohnes Gottes, Wasche und Reinige dich durch daß Badt der Heiligen Tauffe von Allen Deinen sünden; daß wünschet von Hertzen deine getreue Tauffzeugin […], den 17 ten August 1783. Scheutz; Tersch, Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit, 2000, S. 23 (bearbeitet) ÷ Da es in der Renaissance (und auch danach) sehr teuer war, ein Gemälde anfertigen zu lassen, gibt es aus jener Zeit wenige Bilder von Personen, die nicht dem Adel oder dem Bürgertum angehörten. ÷ Das Schreibebuch der Familie Caließ wurde in umgangssprachlichen Begriffen verfasst. So bedeutet „mohnath“ bzw. „monad“ Monat bzw. Monate oder „Janniwari“ Jänner. Es weicht auch von den heute gebräuchlichen Regeln der Groß- und Kleinschreibung ab. Die Eintragungen sind chronologisch ungeordnet und nicht immer mit einem Datum versehen. P Kurant oder Kurantmünze: Münze, deren Metallwert mindestens dem aufgeprägten Nennwert entspricht P Scheffel: Maßeinheit für 55 Liter Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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