Alles Geschichte! 7, Schulbuch [Teildruck]

59 Karl Renner am 3. April 1938 im Neuen Wiener Tagblatt Ich habe als erster Kanzler Deutschösterreichs am 12. November 1918 in der Nationalversammlung den Antrag gestellt und zur nahezu einstimmigen Annahme gebracht: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“ […] Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt. Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St.-Germain und Versailles. M3: In: Neues Wiener Tagblatt, 3.4.1938. 10. April: Volksabstimmung über die nachträgliche Zustimmung der Wiedervereinigung Österreichs mit Deutschland. Zwischen 300 000 bis 400 000 Menschen (Jüdinnen und Juden, Roma, Sinti und bekannte politische NS-Gegner/innen) wurden von der Volksabstimmung ausgeschlossen. Laut Bekanntgabe der Nationalsozialisten stimmten 99% der Bevölkerung für die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ und für die Liste Adolf Hitlers. Bericht von Bernhard Stillfried Wir hatten eine Bedienerin aus dem Burgenland, aus einer erzkatholischen Familie und sehr antinazistisch eingestellt. Am Dienstag nach der Wahl war sie in Tränen und hat uns erzählt, in ihrem Ort hätten sie, ihr Vater und ihre beiden Brüder mit „Nein“ gestimmt. Am Abend dieses Tages, als das Wahlergebnis über ihr Dorf verlautbart wurde, war es 100% „Ja“. M4: Stourzh/Zaar (Hg.): Österreich, Deutschland und die Mächte, 1990, S. 466. Die Nationalsozialisten nahmen das Ergebnis der Volksabstimmung in einigen Gegenden zum Anlass, die neuen Kräfteverhältnisse aufzuzeigen. So wurde in einer Meldung der Gestapo-Außenstelle St. Pölten vom 16. April 1938 von 60 bis 70 Fällen berichtet, in denen Zivilpersonen von NSDAP-Mitgliedern misshandelt wurden. Es erfolgte keine Strafverfolgung. Personen, die mit Nein gestimmt hatten oder sich zu der Volksabstimmung kritisch äußerten, bekamen auch Konsequenzen zu spüren. Verhaftungen nach der Volksabstimmung Josef Schramm wurde wegen „Herabwürdigung der Volksabstimmung“ angezeigt, weil er in einem Gasthaus u.a. äußerte: „Die Wahl am 10. April 1938 war eigentlich keine Wahl. Bei einer Wahl muß doch jeder Partei die Agitation erlaubt sein.“ Schramm wurde am 12. Juli 1938 vom LG Linz wegen „Vergehens der Aufwiegelung“ zu sechs Wochen Arrest verurteilt. M5: Mitteilung des Dokumentationsarchiv der österreichischen Widerstandes 236, Mai 2018, S. 9 f. (alte RS). Stephan Löwenstein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.3.2018 Es ist heute fast schon verpönt, aber dennoch wahr, daran zu erinnern, dass Österreich zwar nicht nur Opfer, aber durchaus auch Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands war: Als Gemeinwesen, so zerrissen und belastet es auch gewesen sein mag, und in wohl der Mehrzahl seiner Bürger. Denn nicht von ungefähr ließ Hitler deshalb so überhastet einmarschieren, weil er verhindern wollte, dass die Österreicher über die Frage Kurt Schuschniggs abstimmen könnten: „Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich, für Friede und Arbeit und die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen.“ M6: In: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 12.3.2018. Interview mit Ludwig Soswinski vom 8.8.1983 Die Frage des Widerstands: Da haben wir noch nicht gewusst, was ich dem Schuschnigg nach [19]45 g’sagt hab: Weißt du, wie vielen Österreichern man das Leben gerettet hätte, wenn man in Österreich einen Widerstand umsonst [= vergeblich] – jetzt grad nachträglich ist es leicht zu sagen – der zu nichts geführt hätte – nämlich wir hätten nicht Österreich gerettet, aber vielleicht hätte es nicht allgemeine österreichische Regimenter [in der deutschen Armee] gegeben […] Wir hätten sicher eine Regierung im Ausland gehabt. M7: Portisch: „Das sind die zwei Stunden, die mich sieben Jahre gekostet haben …“, ORF TVthek, 8.8.1983, TC 12:39–13:20. Jetzt bist du dran: 1. Diskutiere anhand der Quellen M1–M5, inwieweit das Ergebnis der Volksabstimmung vom 10. April 1938 der Meinung der österreichischen Bevölkerung entsprochen hat. 2. Analysiere anhand M3 den Standpunkt Renners zum Anschluss. 3. Arbeite aus M6 und M7 die enthaltenen Urteile zur Rolle Österreichs in der NS-Zeit heraus. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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