Alles Geschichte! 7, Schulbuch [Teildruck]

30 2.9 „Goldene“ Zwanzigerjahre? „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“ Als Goldene Zwanzigerjahre gilt in Europa die Zeit nach dem Ende der Hyperinflation 1924 (s. S. 36) bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 (s. S. 28). Oft wird diese Zeit mit Wohlstand verbunden, was jedoch nur bedingt richtig ist. Die 20er-Jahre waren eine Zeit voller Gegensätze. 1924/25 erholte sich die Wirtschaft in den europäischen Staaten, das politische Klima mäßigte und stabilisierte sich. Firmen aus den USA bauten moderne Produktionsanlagen, mit dem Einsatz von Fließbändern konnten große Mengen an Gütern schneller und preisgünstiger produziert werden. Allerdings führte dies dazu, dass viele kleine und mittelgroße Betriebe schließen mussten. Gesellschaftlicher Wandel – die Großstädte In den europäischen Großstädten (z.B. Wien und Berlin) orientierte man sich an dem von Massenkonsum geprägten und freizeitorientierten „American way of life“, der ein Gefühl der Modernität und des Fortschritts herbeiführte. Möglich war dies nur für eine kleine, im Vergleich zum Großteil der Bevölkerung wohlhabende Gesellschaftsschicht. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig über die Jugend der 1920er-Jahre Eine ganze neue Jugend glaubte nicht mehr den Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit misstrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft. […] und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. M1: Zweig: Die Welt von Gestern, 2019, S. 342f. Es entstanden Nachtclubs, Bars, Varietétheater, Kaufhäuser, Kinos, Sportstätten und luden zum Vergnügen ein. Jazzmusik und neue Tänze wie der Charleston wurden auch in Europa beliebt. Homosexuelle fanden in der Anonymität der Großstadt Möglichkeiten, eine eigene Subkultur aufzubauen, auch wenn Homosexualität weiter strafbar blieb. US-amerikanische Kinofilme wie „Dracula“ oder „King Kong“ wurden zu Publikumserfolgen. Sport wurde nicht nur aktiv ausgeübt, sportliche Wettkämpfe wurden auch von begeisterten Zuschauer/innen mitverfolgt. Besonders Motorsport, Fußball, Radfahren und Boxen erfreuten sich großer Beliebtheit. Bedeutend für die Verbreitung des Sports waren Live-Übertragungen im Radio, das sich in den 1920ern als neues Medium durchsetzte. Viele Menschen sahen die Großstädte jedoch auch als Zentren des Verbrechens und der Unmoral. Prostitution, Kriminalität und Drogenkonsum prägten vielerorts das Stadtbild. Auch Kriegsversehrte und unterernährte Kinder waren ein häufiger Anblick auf den Straßen. Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend waren weit verbreitet. Der Schneidersohn Kurt Motlik erinnert sich an seine Kindheit in den 1920ern Als „Ohr zur weiten Welt“ besaßen wir ein Detektorradio […] Eine Tageszeitung leisteten wir uns nur am Sonntag. […] Wir Kinder bekamen zum Frühstück und zur Jause ein Stück Brot mit selbst gemachter Marmelade und ein Häferl Milch. Die Erwachsenen tranken Tee oder Malzkaffee […]. Fleisch oder Geflügel gab es nur an Sonn- und Feiertagen. Aber auch nur in geringen Mengen. Wir Kinder waren darauf gedrillt, alles aufzuessen, was auf den Tisch kam […]. Brot gab es bei uns immer reichlich. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Bettler an unserer Wohnungstür klopfte und um ein Stück Brot bat. Er bekam es auch. Nach jetzigen Maßstäben waren wir arm. Es war jedoch damals kein Einzel-, sondern ein Massenschicksal. M3: Belndorfer: Wegwerfen ist eine Sünde. Österreichische Konsumgeschichten aus beinahe hundert Jahren, 2019, S. 44. M2: Heinrich Zille: Hunger. Lithographie, um 1924 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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