Alles Geschichte! 6, Schulbuch

72 5.6 Die europäische Besiedelung der Kolonien Ausmaß und Hochphase der Migration Hauptauswanderungsziel europäischer Emigranten und Emigrantinnen war stets der amerikanische Doppelkontinent, vor allem der nördliche Teil. Die mit 55 bis 60 Millionen Menschen größte Wanderungsbewegung in die (damals bereits teils ehemaligen) Kolonien fand erst zwischen 1815 und 1930 statt. Doch schon zuvor hatte sich die amerikanische Bevölkerung durch den steten Zuzug, die Verschleppung von über zehn Millionen Sklaven und Sklavinnen bei gleichzeitigem fast vollständigem Aussterben der lokalen Bevölkerung grundlegend verändert. Spanische Kolonien in Lateinamerika Die spanische Kolonialpolitik zielte von Beginn an darauf ab, die neuen Gebiete und ihre Bevölkerung zu beherrschen. Insofern waren die ersten spanischen „Siedler“ auch keine Bauern, Kaufleute oder Ähnliches, sondern Soldaten bzw. niedrige Adelige. Für die Eroberung und Verwaltung im Namen der spanischen Krone versprachen sie sich eine höhere Stellung und größeren Reichtum, als dies in der Heimat möglich gewesen wäre. Begleitet wurden sie stets von Missionaren, die den christlichen Glauben verbreiten sollten. In der ersten Besiedelungsphase Lateinamerikas war die überwiegende Mehrheit der einwandernden Personen Männer. Im Unterschied zur Besiedelung Nordamerikas blieb die Gesamtzahl der europäischen Emigranten und Emigrantinnen bis ins 19. Jh. gering. Beides begünstigte die Durchmischung der aufeinandertreffenden Bevölkerungen und verhinderte eine vollständige Europäisierung der Gesellschaft wie in Nordamerika. Hinzu kam in Lateinamerika auch noch eine Vermischung mit den dorthin verschleppten Sklaven und Sklavinnen. Der folgende Brief eines spanischen Gerbers gibt einen Eindruck, wie das Leben für die Immigrierenden in ihrer neuen Heimat ausgesehen hat: Brief eines spanischen Siedlers (ca. 1573) Ich habe große Mühsal durchlebt, bevor mich Gott hierher geführt hat, wo ich bin und bleiben werde. Und alles, was ich seit meiner Ankunft erlitten habe, ist nichts, weil die Ärgernisse, die du und meine Kinder erlitten habt, mir große Traurigkeit und Qualen verursachen […]. Außerdem habe ich die großen Erwartungen, die ich mit hierher brachte, [noch immer]. […] Ich versuche, mein Geld nicht verschwenderisch auszugeben, und ich verdiene viel mehr, als ich für den Lebensunterhalt brauche. An allem diesem ist nur ein Fehler, und der ist, dass ich dich und die Kinder nicht bei mir habe […]. Außerdem habe ich sechs bis acht Indios, die für mich arbeiten, und jeder, den ich habe, bringt mir dreißig, zwanzig, fünfzehn und einige auch nur zehn Pesos ein. […] Ich erzähle dir das alles, damit du berücksichtigst, dass ich hier, wo ich leide, auch sehr viel verdiene. […] Er [eine Bekanntschaft, Anm.] sah meine Lage sofort und die Sorgen, die ich wegen meiner Frau und Kinder habe, und er sah, wie sehr mich das schmerzt. […] Er […] stimmte zu, über einen seiner Kaufmannsfreunde 150 Pesos nach Sevilla zu schicken. Eine Summe, die nur für dich bestimmt ist, damit du und die Kinder kommen könnt. M1: Otte: Cartas privadas de emigrantes de Indias. 1540–1616, 1988, S. 81, zit. nach: König/Riekenberg/Rinke: Die Eroberung einer neuen Welt, 2014, S. 202–204. Portugals einzige Siedlerkolonie: Brasilien Portugal konzentrierte seine Bemühungen Anfang des 16. Jh. auf sein Handelsnetzwerk in Ostasien. Im heutigen Brasilien, das im Vertrag von Tordesillas Portugal zugeschrieben worden war (s. S. 65), entstanden zunächst lediglich an der Küste einige Handelsstützpunkte. Bis auf Holz wurden keine nennenswerten Rohstoffvorkommen entdeckt. In dieser Frühphase pflegten die Portugiesen ein gutes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Doch mit den zunehmenden Kolonialisierungsbestrebungen veränderte sich das in den nächsten Jahrzehnten. Auf Druck der Siedler war der gesetzliche Schutz der Indigenen sogar geringer ausgeprägt als in den spanischen Kolonien. Die christlichen Missionare im Land versuchten zwar, dem entgegenzuwirken, doch wie fast überall überwogen für die portugiesische Krone die wirtschaftlichen Interessen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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