68 KOMPETENZTRAINING Das gemeinsame Thema für dieses und das vorhergehende Kompetenzkapitel ist der europäische Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Zunächst sollen die Konsequenzen der vernachlässigten Interessen der indigenen Bevölkerung zu Beginn der europäischen Eroberung deutlich gemacht werden. Der folgende Bericht stammt von einem spanischen Geistlichen vor Ort. Die genannte Zahl der Todesopfer ist als Einschätzung zu sehen. Bericht eines spanischen Mönches (1541/1542) Und seit vierzig Jahren haben sie [die Spanier] bis jetzt nichts anderes getan […], als sie [die Ureinwohner/innen] zu zerfleischen, zu töten, zu peinigen, zu kränken, zu martern und zu vernichten, und das auf ungewöhnliche, neue und vielfältige Arten der Grausamkeit […]. […] Als ganz zuverlässig und wahrheitsgemäß sehen wir die Berechnung an, daß in diesen vierzig Jahren durch die erwähnten Gewalttaten und teuflischen Werke der Christen mehr als zwölf Millionen Seelen – Männer, Frauen und Kinder – auf ungerechte und tyrannische Weise getötet wurden […]. M1: Las Casas: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, 2006, S. 17–19 (alte RS). Auch heute wird in manchen Fragen um das richtige Verhalten gegenüber Indigenen und ihren Interessen gerungen. 5.4 Vernachlässigte Interessen erkennen und Konsequenzen abschätzen: Der europäische Umgang mit Indigenen II Vernachlässigte Interessen in Urteilen erkennen und die damit verbundenen Konsequenzen abschätzen Diese Teilkompetenz der politischen Urteilskompetenz ist eng mit der vorigen verbunden, nur wird hier ein ganz konkreter Aspekt untersucht. Sie besteht aus zwei Stufen. Im ersten Schritt gilt es, beteiligte Personen oder Gruppen ausfindig zu machen, deren Ansprüche in einer begründeten Stellungnahme nicht (ausreichend) berücksichtigt wurden. Die Vernachlässigung kann absichtlich oder unabsichtlich geschehen sein. Der zweite Schritt ist schwieriger. Hierbei sollen die möglichen Folgen eines solchen Urteils für die berücksichtigten und die nicht (ausreichend) berücksichtigten Personen oder Gruppen ermittelt werden. Um die mit einem Urteil verbundenen Konsequenzen abzuschätzen, ist ein breites Wissen erforderlich. Doch wie das Wort „abschätzen“ andeutet, kann man selbst dann die Konsequenzen selten mit Sicherheit bestimmen. Vernachlässigte Interessen erkennen und Konsequenzen abschätzen – so gehst du vor: − Stelle das Thema des Urteils fest. − Untersuche, wen und was das Urteil betrifft. − Arbeite mögliche Interessen aller Beteiligten heraus. − Beurteile, ob alle Interessen in der begründeten Stellungnahme gleichermaßen berücksichtigt sind oder ob Interessen vernachlässigt wurden. Dabei hilft es häufig, zunächst die Interessen der Urheberin oder des Urhebers des Urteils herauszuarbeiten. − Schätze ab, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wenn gewisse Interessen nicht berücksichtigt wurden. Ein Beispiel ist das vermeintlich harmlose Thema der Faschingsverkleidungen (s. auch M4): Sind Indianer-Kostüme diskriminierend? Eine Kindertagesstätte aus Hamburg bat nun Eltern, dass ihre Kinder sich zur Faschingsfeier nicht als Indianer verkleiden sollten, um „keine Stereotype“ zu bedienen – was Carmen Kwasny befürwortet: „Es wird oft keine Rücksicht darauf genommen, dass die Vermittlung solcher Klischees verletzend ist. Daher begrüßen wir die Empfehlung“, sagt die Vorsitzende des Vereins „Native American Association of Germany“ […]. Das Verwenden von beispielsweise Federschmuck und Gesichtsbemalung als Verkleidung sei respektlos, weil es nicht in allen der vielen verschiedenen Stämme gebräuchlich war. Ähnlich sieht es auch Kwasny: „Die Federhaube ist ein Ehrenzeichen für Würdenträger. Dass sie verkitscht wird, ist nicht in Ordnung“, sagt die 54-Jährige […]. Sie findet, dass es selbstverständlich ist, dass man auf die Gefühle von anderen Kulturen Rücksicht nimmt […]. Ohnehin werde oft ein falsches Bild geschaffen: Das Indianergeheul habe es etwa nie gegeben, viele Nationen hätten keine Federn getragen oder in Tipis gehaust. M2: Hommers: Sind Indianer-Kostüme diskriminierend?, in: Tagesspiegel, 6.3.2019. Online auf: www.tagesspiegel.de (29.7.2022). Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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