35 Die Utopie einer Landesordnung des Michael Gaismair 1525 kam es nach dem Todesurteil gegen einen Bauern, der sich gewaltsam gegen den Entzug seiner Fischereirechte gewehrt hatte, zu einem Aufstand in Tirol. Michael Gaismair, der als Sekretär im Dienst des Brixener Fürstbischofs stand, wurde zum obersten Feldhauptmann der Aufständischen gewählt. Gaismair forderte vom Kaiser die Einberufung eines Landtags, um die Forderungen der Bauern zu besprechen. Er wurde bei den Verhandlungen verhaftet, konnte aber kurz darauf fliehen. In seinem Exil in der Schweiz formulierte er eine Landesordnung nach seinen Vorstellungen aus. Aus Gaismairs Landesordnung (1526) Zum vierten sollen alle Sonderrechte abgeschafft werden, weil sie gegen das Wort Gottes sind und das Recht beugen, darin keiner gegenüber dem anderen bevorzugt werden soll. M2: Forcher: Michael Gaismair, 2020, S. 223. Sonderrechte oder Privilegien konnten beispielsweise an Adelige, Städte, Orte oder Klöster verliehen werden und beinhalteten je nach Empfänger Rechte zur Einhebung von Zöllen oder Steuerfreiheit eigener Güter, die Ausführung der Gerichtsbarkeit und Ämterprivilegen, das Markt- und das Jagdrecht. Der Kaiser setzte ein Kopfgeld zur Ergreifung von Michael Gaismair aus, was 1532 zu dessen Ermordung führte. Gaismairs Entwurf einer Landesordnung war sehr fortschrittlich: Der Jurist Erwin Schranz über Gaismairs Landesordnung Die wesentlichen staatlichen Kernfunktionen spiegeln sich darin wider: • eine Rechtsordnung mit staatlichen Organen und Friedenssicherungsaufgaben; • Grundlagen des Zusammenlebens und der Bildung; • wirtschaftliche Voraussetzungen und Infrastrukturleistungen für die Bevölkerung; • Gerechtigkeitsfragen und sozialer Ausgleich (s. S. 132 f.). M3: Schranz: Ein Freiheitskämpfer, seiner Zeit voraus, in Wiener Zeitung, 27.1.2019, Online auf: https://www.wienerzeitung.at (7.8.2022). Österreichs gegenwärtige Verfassung 1920 wurde das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) beschlossen, das maßgeblich auf dem Entwurf des Juristen Hans Kelsen beruhte. Das Verfassungsgesetz wurde seitdem nur novelliert und somit zählt Österreichs Verfassung zu einer der ältesten, noch gültigen Verfassungen Europas. Die Verfassung beinhaltet heute 152 Artikel und baut auf vier Grundprinzipien auf: • das demokratische Prinzip, • das republikanische Prinzip, • das bundesstaatliche Prinzip, • das rechtsstaatliche Prinzip. Die Verfassung regelt das politische Handeln Besondere Aufmerksamkeit bekam die Bundesverfassung 2019, als nach einem Misstrauensvotum des Nationalrats infolge des Ibiza-Skandals die gesamte Regierung durch den Bundespräsidenten ihres Amtes enthoben worden war. Bis zu den folgenden Neuwahlen wurde vom Bundespräsidenten eine Regierung bestehend aus Expertinnen und Experten eingesetzt. Alle Vorgangsweisen basierten auf Artikeln der Bundesverfassung. Bundespräsident Alexander Van der Bellen am 21. Mai 2019 Denn gerade in Zeiten wie diesen, zeigt sich die Eleganz, ja die Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung. Jeder Schritt, der jetzt getan wird, ist vorgesehen und in der Verfassung verankert. Ich achte dabei penibel auf die Einhaltung jedes einzelnen Details. Es ist mein zentrales Bestreben, dass nun ausschließlich im Interesse und zum Wohle der Republik gehandelt wird. Alles, was in den vergangenen Stunden getan wurde und im weiteren Verlaufe des Überganges getan wird, hat der Aufrechterhaltung der Stabilität und Funktionsfähigkeit unseres Staates zu dienen. M4: Online auf: https://www.bundespraesident.at (12.9.2022). Jetzt bist du dran: 1. Recherchiere die Grundprinzipien der Verfassung und erläutere die Bedeutung dieser Prinzipien. 2. Ordne zu, welchem Grundprinzip der österreichischen Verfassung der vierte Artikel der Gaismair’schen Landesordnung (M2) entspricht. 3. Beurteile anhand von M2 und M3, durch welche Vorschläge von Gaismair sich die herrschenden Adeligen angegriffen gefühlt haben. 4. Interpretiere unter Bezugnahme auf M4 die Karikatur M1. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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