Alles Geschichte! 6, Schulbuch

181 Binnenmigration vor und im 19. Jh. Als Binnenmigration wird die Wanderung innerhalb eines Staates oder eines geografischen Raumes bezeichnet. Vor dem 19. Jh., in der frühen Neuzeit, war die wirtschaftlich bedingte Binnenmigration nur sehr schwach ausgeprägt, da der Großteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt war und die Menschen somit rechtlich an ihre Grundherrschaft gebunden waren. Eine größere Bedeutung nahm die Binnenmigration im Fall der Entvölkerung von Regionen durch Kriege, wie den Dreißigjährigen Krieg, Epidemien und der Gebietsausweitung eines Herrschaftsbereiches an. Diese Migrationsbewegungen wurden meist von den Landesherren angeregt, um die Wirtschaftsleistung in den Gebieten zu steigern. Die erste größere wirtschaftlich, aber auch militärisch motivierte Migrationsbewegung in der Neuzeit innerhalb Europas war ab Ende des 17. Jh. die Besiedelung der Grenzregionen in Südosteuropa zum Osmanischen Reich mit Siedlerinnen und Siedlern vor allem aus deutschsprachigen Gebieten, aber auch aus anderen europäischen Ländern. Noch heute sind in Rumänien und Ungarn kleine Sprachinseln der sogenannten Donauschwaben erhalten. Zuzug in Städte und Industriegebiete Wie die überregionale Migration setzte die Binnenmigration im 19. Jh. verstärkt ein. In Europa führte der Zuzug aus den Grenzregionen in die Städte und die Industrieregionen zu einer Veränderung der Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur. Wohnten in Österreich im 18. Jh. 10 bis 15 % der Bevölkerung in Orten mit mehr als 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern, waren es 1910 schon 50 %. Die Bevölkerung Wiens stieg durch die Eingemeindung der Vororte und den Zuzug von 401 000 Personen im Jahr 1830 auf 2 084 000 im Jahr 1910. Um 1914 stammte ein Viertel der in Wien wohnenden Menschen aus Böhmen oder Mähren und machte Wien damit zu einer der größten „tschechischen“ Städte. Der größte Anteil der zugezogenen Männer und Frauen arbeitete in schlecht bezahlten Berufen, zum Beispiel als Ziegelarbeiter/innen, die durch die steigende Bautätigkeit in Wien sehr gefragt waren. Aus der Broschüre zur Ausstellung „Wien und die Ziegelböhm“ (2014) Der überwiegende Teil der Ziegelarbeiter/innen rekrutierte sich aus verarmten Bauern und Kleinhäuslern aus Böhmen und Südmähren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderte beinahe die Hälfte der Bevölkerung aus diesen Regionen aufgrund wirtschaftsbedingter Krisen ab. Da es in den Wintermonaten kaum Arbeit am Ziegelwerk gab, kehrten viele der überwiegend männlichen Wander- und Saisonarbeiter in ihre böhmische oder mährische Heimat zu Familie und Hof zurück. Ab den 1870er Jahren zogen ganze Familien auf den Wienerberg und arbeiteten in „Familienpartien“: Die Männer als „Lehmscheiber“, die Frauen als „Ziegelschlägerinnen“, die Kinder als sogenannte „Aufreiber“, indem sie die noch feuchten Ziegel zum Trocknen in Reih und Glied schlichteten. M3: Wohnservice Wien: Wien und die Ziegelböhm, 2014, S. 10 M4 und M5: Arbeiterinnen und Arbeiter im Ziegelwerk. Fotografien, Wien um 1900 Jetzt bist du dran: 1. Werte die Statistik M1 aus. Vergleiche die Änderungen der Migrationsströme aus den Weltregionen. 2. Arbeite aus M2 die genannten Gründe für das Ansuchen und die Hoffnungen für die Zukunft heraus. 3. Vergleiche unter Verwendung der Quellen M3, M4 und M5 die Arbeitswelt der Ziegelarbeiter/innen mit der von Migrantinnen und Migranten heute. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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