166 4.7 Die Identität des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn Die österreichisch-ungarische Monarchie hatte gegen Ende ihres Bestehens eine Bevölkerung von etwa 50 Millionen Menschen und umfasste eine Fläche von etwa 676 000 km². Etwa ein Fünftel der Bevölkerung war deutschsprachig. Das Gebiet umfasste weiters slawische, romanische und ungarische Sprachgruppen. Es waren die katholische, die protestantische, die orthodoxe, die jüdische und die muslimische Glaubensgemeinschaft vertreten, wobei die katholische etwa drei Viertel der Bevölkerung ausmachte und somit die größte Religionsgemeinschaft war. Der Kaiser war nicht nur der oberste Landesherr, sondern trug noch weitere bestehende und auch historische Titel, wie z.B. König von Jerusalem. Großer Titel von Franz Joseph I. 1914 Franz Joseph I., von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich; König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slavonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem etc.; Erzherzog von Österreich; Großherzog von Toscana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Nieder-Schlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradisca; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf von Ober- und Nieder-Lausitz und in Istrien; Graf von Hohenembs, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg etc.; Herr von Triest, von Cattaro und auf der windischen Mark; Großwojwod der Wojwodschaft Serbien etc. etc. M1: Hof- und Staats-Handbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie 1914, S. XXXIII. Die Identität der Habsburgerherrschaft Als Nationalbewusstsein der Bevölkerung eines Landes wird die kollektive, also gemeinschaftliche Zustimmung bezeichnet, ein zugehöriger Teil zur Nation zu sein. Aus diesem Bewusstsein können sich eine staatliche Identität, Patriotismus und Nationalstolz herausbilden. Zur Schaffung einer Identität können auch lang fortdauernde Traditionen genutzt und historische Legitimationen verwendet werden (s. S. 160 f.). Bis zum Anfang des 19. Jh. wurde als verbindende Identität des Herrschaftsgebietes vor allem das Haus Österreich, also die Dynastie der Habsburger, herangezogen. Auch bei der Gründung des Kaisertums Österreich 1804 wurde Österreich mit dem Namen der Habsburger gleichgesetzt. Noch bis zu den Revolutionsjahren 1848/49 wurde die Bezeichnung Österreich für die beiden Erzherzogtümer Nieder- und Oberösterreich, die habsburgische Monarchie oder alle Kronländer wechselweise angewendet. Das Gottesgnadentum, also die Legitimation der der Herrschaft der Habsburger durch göttlichen Willen, und damit verbunden die katholische Frömmigkeit der Habsburger war eine weitere Ausprägung dieser Identität. Aus dem Universitätslehrbuch des Geschichtsprofessors der Universität Graz, Leopold Haßler, 1842 Das heutige Oesterreichische Kaiserthum besteht aus sehr vielen von einander ganz verschiedenen Ländern und Völkern, welche der Lauf der Jahrhunderte nach und nach unter das Zepter eines gemeinschaftlichen Oberherrn gebracht hat. Die Art, wie dieser Staat von seinem unbedeutenden Anfange bis zur gegenwärtigen Größe sich empor hob, ist einzig in der Geschichte. Nicht durch Kriege und Eroberungen, nicht durch List und Trug, sondern auf rechtlichen Wegen, durch Heirathen, Käufe, Tausch, durch freiwillige Wahl und Unterwerfungen anderer Nationen, welche ihr Glück unter den Schutze der Oesterreichischen Fürsten sicher stellen wollten, blühte Oesterreich von einer Gränzgrafschaft zu einem der ersten und mächtigsten Reiche in Europa empor. M2: Haßler: Geschichte des Österreichischen Kaiserstaates, 1842, §1 (alte Rechtschreibung). Die neue Identität des Vielvölkerstaates Mit dem Aufkommen der Idee einer sprachlich und kulturell homogenen Bevölkerung in Nationalstaaten im 19. Jh. setzte ein Wandel in Bezug auf die Identität der Habsburgerherrschaft ein. Aufgrund der sprachlichen und kulturellen Vielfalt der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen benötigte man eine erweiterte Identität, die den Vielvölkercharakter des Staates besonders hervorhob. Auch die ursprüngliche Schutzfunktion der Habsburgerherrschaft für die Völker Mitteleuropas gegen die Gefahr durch das Osmanische Reich bestand nach dessen Zurückdrängung nicht mehr. Stattdessen trat um die Mitte des 19. Jh. eine neue Bestimmung der Habsburgermonarchie in den Vordergrund: den kleinen Volksgruppen politische Gleichberechtigung, kulturelle und religiöse Freiheit und Frieden zwischen den Gruppen zu gewähren sowie Schutz gegenüber den Nachbarländern Russland und Deutschland zu bieten. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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