Alles Geschichte! 6, Schulbuch

160 4.4 Die Nutzung der Archäologie zur Schaffung einer nationalen Identität Die ersten Ansätze für die Entwicklung der Archäologie als Wissenschaft finden sich in der italienischen Renaissance. Der Kaufmann Cyriacus von Ancona (1390–1452) war einer der Ersten, der Reste von Bauwerken, Statuen und Inschriften der Antike grafisch und schriftlich dokumentierte. Zusätzlich führte er erste Grabungen durch. Während der frühen Neuzeit wurden die Grabungen ohne Dokumentation und Systematisierung der archäologischen Funde durchgeführt, da nur die erhofften Funde im Vordergrund standen. Die ersten systematischen Grabungen begannen ab der Mitte des 18. Jh., als die antiken Überreste der beim Vesuvausbruch 79 n. Chr. verschütteten Stadt Pompeji gefunden und erforscht wurden. Im 19. Jh. geriet das Alte Ägypten in das Blickfeld der Kunstsammler/innen und Funde, echte und gefälschte, überschwemmten den Markt. Der deutsche Kaufmann Heinrich Schliemann entwickelte Ende des 19. Jh. moderne archäologische Methoden. Aufgrund seiner Kenntnis der Schriften Homers konnte er 1871 die sagenhafte antike Stadt Troja lokalisieren und mit einer dokumentierten Ausgrabung der Stadt beginnen. Parallel dazu wurde die Archäologie an den Universitäten als eigene Wissenschaft anerkannt. Vereinnahmung des Altertums durch die Politik Als sich die Bevölkerungen im 19. Jh. von den herrschenden Geschlechtern bzw. Dynastien in ihren Ländern abwandten, verloren diese ihre identitätsstiftende Wirkung. Mit der Ausbildung des Nationalgedankens stieg die Aufmerksamkeit an den Kulturen der Ur- und Frühgeschichte. Eine Abstammung von einer alten Kultur war von Vorteil, da man dadurch den Ausbreitungsbereich der Nation mit ihren Grenzen bzw. der beanspruchten Gebiete untermauern konnte. Weiters konnte mit der Rückbesinnung auf eine vermeintliche Urbevölkerung das Gemeinschaftsgefühl der Bevölkerung – ihre kollektive Identität – hergestellt und gestärkt werden. Der Begriff Identität Identität beschreibt die Eigenwahrnehmung eines Menschen, die er auf Basis seiner biografischen Entwicklung und der Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Umwelt ausbildet. Dabei fließen Merkmale wie Geschlecht, Alter, soziale Herkunft, Ethnizität, Nationalität, Gruppenzugehörigkeiten, Beruf, sozialer Status und persönliche Eigenschaften ein. Der Germanenmythos als Grundlage einer Nation Zur Zeit der napoleonischen Kriege und der Besetzung deutscher Staaten durch französische Truppen wurde die Nibelungensage herangezogen, um als Mittel der Gegenwehr einen deutschen Nationalmythos zu erschaffen. Das in altnordischen Texten überlieferte Nibelungenlied diente der eigenen nationalen Identität und als Legitimation für die staatspolitischen Bestrebungen. Mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 erlangte die Nibelungensage als Nationalmythos neuerlich Popularität. So wurde z.B. 1876 Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ in Bayreuth uraufgeführt. Aufgrund des Ursprungs der Sage wollte der für die Kostüme verantwortliche Maler und Kostümbildner Carl Emil Doepler Ideen für seine Entwürfe bei den Germanen finden. In Museen fertigte er zahlreiche Zeichnungen von archäologischem Material aus der Bronze- und Eisenzeit an, auf deren Grundlage er die Kostüme entwarf. Richard Wagner und seine Ehefrau Cosima waren davon allerdings enttäuscht, da sie eine mystischere Ausstattung im Sinn hatten. 1881 wurde Doeplers Ausstattung an Angelo Neumann verkauft, der damit auf eine erfolgreiche Europa-Tournee ging. 1889 wurden Farblithografien der Kostümentwürfe nach Doeplers Aquarellen vertrieben, die erheblich zur Verbreitung des Germanenbildes beitrugen. M1: Unbekannt: „Germanen auf der Jagd“. Postkarte. Farblithographie, um 1900 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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