Alles Geschichte! 6, Schulbuch

157 Das Gedenkjahr 1883 Die Gedenkfeierlichkeiten von 1883 waren von politischen Auseinandersetzungen und Rivalitäten geprägt. Die verschiedenen Seiten hoben einerseits die Verdienste der Wiener Bürgerschaft, anderseits die der Monarchie und der Kirche hervor. Bei den Gedenkfeierlichkeiten wurden im Stephansdom ein Denkmal und an der St. Josefskirche am Kahlenberg eine Gedenktafel enthüllt. M2: Paul Korecky: Inschrift der Gedenktafel über dem Hauptportal der St. Josefskirche am Kahlenberg, angefertigt 1883. Fotografie, 2018 Gedenkfeiern im 20. Jh. 1933, am Beginn des autoritären Regimes von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, wurde bei der 250-jährigen Gedenkfeier der Befreiung der Stadt gedacht. In einer Rede betonte Dollfuß die besondere Bedeutung des damaligen Stadtkommandanten Graf Starhemberg. Dollfuß kritisierte Marxismus und Kapitalismus und erklärte Österreich davon befreit. Österreich sollte ein sozialer, christlicher, deutscher Staat unter einer starken, autoritären Führung werden. Die Gedenkfeier 1983 zum 300. Jahrestag stand im Zeichen der Verbindung zwischen Polen und Österreich. Beim in Wien stattfindenden Katholikentag zelebrierte der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. eine Messe. Das Gedenken heute Heute befinden sich allein in Wien an die hundert Denkmäler zu den Kriegen mit dem Osmanischen Reich und etwa fünfzig weitere stehen in Niederösterreich, Burgenland und der Steiermark. Die beiden jüngsten Denkmäler sind der Yunus-Emre-Brunnen von 1991 und das Kosakendenkmal von 2003 im Türkenschanzpark in Wien-Döbling. Während der von der Türkei gestiftete Brunnen die neue Freundschaft und Verbindung zwischen Österreich und der Türkei ausdrücken sollte, wurde mit dem Kosakendenkmal der ukrainische Einsatz im Entsatzheer gewürdigt und somit auch der junge, seit 1991 bestehende ukrainische Staat. Auch heute haben sich im innenpolitischen Meinungsaustausch in Österreich Bezüge zu der Belagerung Wiens und der sogenannten „Türkengefahr“ erhalten. Die historische Aufarbeitung des über Jahrhunderte überlieferten Türkenbildes setzte erst nach dem 300-jährigen Gedenken der Belagerung ein. Der Historiker Peter Rauscher zur Verbindung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Erinnerungskultur (2010) Damit reagiert die Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit auf das öffentliche Feiern von Jubiläen und entspricht damit ihrem Charakter als kritischer Wissenschaft. Auf der anderen Seite nehmen professionelle Historikerinnen und Historiker häufig gerne selbst an der Gedenkkultur teil, die ihnen Möglichkeiten bietet, aus den Seminarräumen der Universitäten und den oft engen Zirkeln ihrer Forschungsgebiete in eine breitere Öffentlichkeit zu treten, und stellen sich damit selbst „oft in den Dienst der Mythenproduktion“. Nicht allein wegen der Indienstnahme von Historikerinnen und Historikern für die Produktion nationaler Erinnerung ist eine Trennung zwischen Geschichtswissenschaft und kollektivem Gedächtnis, wie dies Maurice Halbwachs postuliert [= gefordert] hat, heute kaum mehr aufrecht zu erhalten. Vielmehr besteht, wie Aleida Assmann formuliert, „mittlerweile ein Konsens darüber, daß es keine Geschichtsschreibung gibt, die nicht zugleich auch Gedächtnisarbeit wäre, also unhintergehbar verquickt ist mit den Bedingungen der Sinngebung, Parteilichkeit und Identitätsstiftung“. M3: Rauscher: Erinnerung an den Erbfeind, 2010, S. 3. Jetzt bist du dran: 1. Bewerte unter Einbeziehung von M1 die Aussagekraft und Intention des Hernalser Eselritts. 2. Vergleiche den Inhalt der Inschrift (M2) mit der Gestaltung der Schriftgröße des Textes. Erkläre die Intention (Absicht) der Gedenktafel. 3. Fasse die Verbindung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Gedenkkultur (Gedächtnisarbeit) anhand des Textes von Peter Rauscher (M3) zusammen. 4. Diskutiere die unterschiedlichen Botschaften der beiden Formulierungen „zweite Wiener Türkenbelagerung“ und „zweite Belagerung durch das Osmanische Reich“. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=