131 Prekäre Wohnsituation Der massive Zuzug in die neuen industriellen Zentren sorgte für Probleme, da es an Wohnraum fehlte. Dies führt zu einer großen Zahl an Obdachlosen und äußerst widrigen Wohnverhältnissen für die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten. Denn auch für Familien, die eine Bleibe besaßen, war die Situation in den Städten oft schwierig. Zumeist bestanden die Wohnungen aus nur ein oder zwei Räumen, in denen sich das gesamte Leben abspielte, sodass entsprechend beengt gelebt wurde. Selbst dann fehlte häufig das Geld, um die Mieten bezahlen zu können. So entwickelte sich in vielen Großstädten das Phänomen der Bettgeher: Familien vermieteten ein Bett, während sie es selbst nicht benötigten, z. B. an einen Schichtarbeiter, der selbst keine Bleibe hatte. Die Bettgeher hatten dadurch zumindest zum Schlafen eine Unterkunft und die Familien verdienten ein klein wenig hinzu. Allerdings gingen damit häufig soziale Probleme einher. Wohnverhältnisse ärmerer Schichten (1898) Es ist ein […] fünfstöckiges Gebäude mit dunklem Treppenhaus, dunklen Gängen und Wohnungen, das wir betreten. In dieser Mietskaserne wohnen nicht weniger als 115 Menschen. Mehr als der dritte Theil davon, die Armen und Ärmsten, wohnen im Dachgeschoß […] dicht gedrängt zusammen. […] Wie sehr aber die sittlichen und gesundheitlichen Verhältnisse bei solchen Zuständen leiden, liegt auf der Hand. Ein Kubikluftraum von 7,7 cbm [= Kubikmeter] auf eine Person ist denn doch zu wenig und steht in gar keinem Verhältnis mehr zu den hygienischen Anforderungen, zumal die Wohnung den ganzen Tag benützt wird. Die in dieser Wohnung herrschende Atmosphäre, der Dunst etc. nöthigten uns bald, diese Stätte des Elends wieder zu verlassen. Aber wo wir uns auch hinwenden mochten, überall traurige Wohnungsbilder, überall Überfüllung […]. Für sämtliche 41 Personen [des Dachgeschosses] ist ein Abort [= Klosett] vorhanden. M3: Neue Bayerische Zeitung vom 29.12.1898, zit. nach: Teuteberg/ Wischermann: Wohnalltag in Deutschland 1850–1914, 1985, S. 185. Probleme bei der Müllentsorgung, mangelnde Hygiene aufgrund fehlender sanitärer Einrichtungen, kein fließendes Wasser waren nur einige der Folgen der Überbevölkerung in den Städten. Sie lieferten den Nährboden für die rasche Verbreitung ansteckender Krankheiten. Entlastung zum Preis der Abhängigkeit Viele Unternehmen errichteten als Reaktion auf den Wohnungsmangel beim (Aus-)Bau von Fabriken billige Unterkünfte für ihr Personal. Diese waren zumeist nur notdürftig ausgestattete, enge Baracken. In Ermangelung an Alternativen waren sie in der Regel trotzdem voll belegt. Dies führte die Arbeiter/innen allerdings in eine noch größere Abhängigkeit. Wer gekündigt wurde, war ab sofort obdachlos. Außerdem galt eine Reihe strenger Vorschriften für das Zusammenleben, ähnlich den teils willkürlichen Betriebsvereinbarungen. Der Grund für die strengen Regeln lag in einem von den Fabriksbesitzern gewünschten Nebeneffekt – der Erziehung ihrer Bediensteten. Auch Kantinen, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und Freizeitangebote entstanden, sodass ein großer Anteil des Lohnes der Arbeitskräfte direkt an den Arbeitgeber zurückging. Für etwas Entspannung im Wohnungsbereich sorgten gegen Ende des 19. Jh. das Aufkommen des öffentlichen Verkehrs und die Verbreitung des Fahrrads. Nun konnten Menschen von ihrer Arbeitsstätte entfernt wohnen und den längeren Arbeitsweg ohne große Zeitverluste bewältigen. M4: Unbekannt: Die Baracken von Obdachlosen in Berlin. Holzstich nach einer Zeichnung von Georg Koch, 1872 Jetzt bist du dran: 1. Fasse die Erkenntnisse des Arbeiters (M2) bei seiner erstmaligen Arbeitslosigkeit zusammen. 2. Berechne, wie viele Personen in deinem Zuhause lebten, wenn eine Person wie in M3 beschrieben jeweils 7,7 Kubikmeter zur Verfügung hätte. 3. Beschreibe die Bilder M1 und M4 und gehe dabei auf die dargestellten Lebensverhältnisse der abgebildeten Menschen ein. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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