Alles Geschichte! 6, Schulbuch

130 3.4 Veränderung der Lebenswelt Langfristig verbesserten sich die Lebensumstände der Menschen durch die Industrialisierung, z. B. die Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Mobilität und der allgemeine Wohlstand. Doch kurz- und mittelfristig verstärkte sich die bestehende Armut, vor allem in den Städten, und führte zu unwürdigen Lebensumständen für viele Arbeiter/innen. Gesellschaftliches Gefüge Die Industrialisierung und das veränderte Arbeitsleben hatten große gesellschaftliche Auswirkungen. Im 18. Jh. herrschte noch immer eine ständisch geprägte Ordnung in Europa, in die man hineingeboren wurde und die kaum Aufstiegsmöglichkeiten bot. Im Zuge der industriellen Revolution löste sich diese Ordnung langsam auf, es bildeten sich soziale Klassen. Es entstand die neue gesellschaftliche Gruppe der Mittelklasse, die stetig wuchs und zunehmend Bedeutung erlangte. Die Mitglieder kamen aus dem Bürgertum und zeichneten sich durch bestimmte Fähigkeiten oder wirtschaftliches Geschick aus. Sie umfasste z. B. Unternehmer/ innen, Kaufleute, Bankiers, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Beamte und Angestellte. Gemeinsam war ihnen eine hohe Wertschätzung von Bildung. Der Adel jedoch verlor seine herausragende Stellung als bedeutendste Klasse. Wenigen Adeligen gelang es, sich dank ihres Reichtums und Ansehens in der neuen Wirtschaftsordnung zu etablieren und wieder eine hohe Position einzunehmen. Andere verarmten und erlebten einen gesellschaftlichen Abstieg. M1: Hermann Drawe: In der Wärmestube. Wien, Fotografie, 1904 Die wahrscheinlich größte Veränderung war das Entstehen der neuen Arbeiterklasse. Sie löste die in der Landwirtschaft Beschäftigten als größte gesellschaftliche Gruppe ab, wobei die Landarbeiter/innen in der neuen Gruppe aufgingen. Die Arbeiterklasse bildete eine enorme Arbeitskräftereserve, vor allem für die Fabriken. Arbeiter/ innen wurden je nach wirtschaftlicher Lage massenhaft eingestellt oder entlassen. Die wiederkehrenden Phasen der Arbeitslosigkeit bedeuteten für die vielfach am Existenzminimum lebenden Menschen eine oft nicht mehr bewältigbare Notlage. Schilderung eines Arbeitslosen (1895) Es war eine kritische Zeit, eine Zeit allgemeiner Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Tiefstandes. Überall fanden Arbeiterentlassungen statt, wobei natürlich verständigerweise zunächst die jungen und unverheirateten Leute das Feld räumen mußten. Im Herbst jenes Jahres bekam auch ich meine [Entlassungs-]Papiere, und nun folgte eine sehr trübe Zeit. Arbeitslos! […] „Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein Mensch, der arbeiten will, nicht in einigen Wochen wieder Beschäftigung fände, wenn sie auch nicht immer nach seinem Geschmack sein wird!“ – Ja, so dachte ich auch einmal! Wer wollte wohl bereitwilliger arbeiten als ich! […] Woche um Woche, Monat um Monat lief ich hungernd und frierend, abgerissen und verzweifelt in dem ungeheuren Berlin umher. Es war Herbst, es wurde Winter, der Frühling kam … nichts, nichts, nichts! […] [U]nd wenn ich nicht bei meinen alten Leuten gewohnt hätte, was wäre aus mir geworden! M2: Bürgel: Vom Arbeiter zum Astronomen, 1921, S. 70. Vom Land in die Stadt Das Bevölkerungswachstum und die neuen Arbeitsmöglichkeiten führten dazu, dass bestehende Städte schnell wuchsen und, besonders in der Nähe bedeutender Rohstoffvorkommen, neue entstanden. Vor allem Landarbeiter/innen, die aufgrund des technologischen Fortschritts nur noch saisonal und in geringer Zahl gebraucht wurden, zogen in die industriellen Zentren (s. S. 127). Gleichzeitig büßten einige ehemals bedeutende Handels- und Residenzstädte ihren Stellenwert ein, insbesondere wenn dort keine Fabriken errichtet wurden. Insgesamt löste die Industrialisierung aber eine umfassende Urbanisierung (= Verstädterung) aus. Mit ihr ging ein individualistischer Lebensstil einher, bei dem die Menschen mehr auf sich allein gestellt waren. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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