Alles Geschichte! 6, Schulbuch

116 2.10 Die Verfassungs- und Wahlrechtsentwicklung in Österreich-Ungarn Die Entwicklung der politischen Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger erfolgte in den einzelnen Staaten gleichzeitig mit der Ausformung der Grundgesetze. Das Wahlrecht wurde in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt, abhängig davon, wann die politische Beteiligung eingeräumt wurde. Rücknahme von Reformen und Silvesterpatent Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 widerrief Kaiser Franz Joseph I. mit der Verlautbarung des Kaiserlichen Patents vom 31. Dezember 1851 („Silvesterpatent“) die politischen Rechte der Bürger. Diese Phase seiner Herrschaft wird Neoabsolutismus bezeichnet. Das Silvesterpatent bekräftigte jedoch immerhin die Gleichheit aller Staatsangehörigen vor dem Gesetz und die Abschaffung jedes bäuerlichen Untertänigkeits- oder Hörigkeitsverhältnisses. Die Gründung einer konstitutionellen Monarchie Gegen Ende der 1850er Jahre erlitt die Habsburgermonarchie wirtschaftliche, militärische und, damit verbunden, außenpolitische Rückschläge, die zu einer neuen Unzufriedenheit des Bürgertums führten. Angehörige des Bürgertums forderten schließlich neuerlich Reformen. Der Kaiser reagierte mit einem neuen Verfassungsgesetz, dem „Oktoberdiplom“, dem gleich darauf eine Überarbeitung in Form des Grundgesetzes über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 („Februarpatent“) folgte. Der damit eingerichtete Reichsrat bestand aus zwei Kammern: dem Herrenhaus, dessen männliche Mitglieder dem Adel angehörten, und dem Abgeordnetenhaus, das durch Wahl aus den Landtagen gebildet wurde. Oktoberdiplom und Februarpatent wurden von liberalen Bürgern und einigen Ländern nicht anerkannt, weil ihre Forderungen nicht erfüllt worden waren. Das Februarpatent wurde bereits 1865 wieder aufgehoben. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn 1866 erlitt das Kaisertum Österreich bei Königgrätz eine militärische Niederlage gegen Preußen, in deren Folge der Deutsche Bund aufgelöst wurde. Aufgrund dieser Schwächung des Kaisertums Österreich mussten der Kaiser und seine Minister nun im sogenannten „Ausgleich“ die innenpolitische Unabhängigkeit Ungarns anerkennen. Der Ausgleich, der im Grundgesetz vom 21. Dezember 1867 („Dezemberverfassung“) bestätigt wurde, teilte das Kaisertum Österreich in zwei Staaten unter einer Herrschaft – die „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ (ab 1915 amtlich als Österreich benannt) und „die Länder der Heiligen Ungarischen Stephanskrone“. Die österreichisch-ungarische Monarchie (k. u. k.) wurde unter der Herrschaft des österreichischen Kaisers geführt, der über die gemeinsame Außenpolitik, die Finanzen und das Heer bestimmte. Zugleich wurden ein österreichischer und ein ungarischer Reichsrat eingerichtet, die gleichgestellt für ihre Länder an der Gesetzgebung beteiligt waren. Der Kaiser behielt aber das Vetorecht gegenüber Beschlüssen des Reichsrats, konnte die Regierung einsetzen oder entlassen und hatte ein Notverordnungsrecht. Der Schritt zur konstitutionellen Doppelmonarchie versöhnte zwar die Ungarn, führte aber zu Gleichstellungsforderungen der anderen Volksgruppen. Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt Artikel 1. Der Kaiser ist geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich. Artikel 2. Der Kaiser übt die Regierungsgewalt durch verantwortliche Minister und die derselben untergeordneten Beamten und Bestellten aus. Artikel 3. Der Kaiser ernennt und entläßt die Minister und besetzt über Antrag der betreffenden Minister alle Aemter in allen Zweigen des Staatsdienstes, […]. […] Artikel 5. Der Kaiser führt den Oberbefehl über die bewaffnete Macht, erklärt Krieg und schließt Frieden. Artikel 6. Der Kaiser schließt die Staatsverträge ab. [...] Artikel 8. Der Kaiser leistet beim Antritt der Regierung in Gegenwart beider Häuser des Reichsrathe das eidliche Gelöbniß: „Die Grundgesetze der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder unverbrüchlich zu halten und in Uebereinstimmung mit denselben und den allgemeinen Gesetzen zu regieren.“ M1: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1867, Reichsgesetzblatt 145, S. 400 (alte RS). Die Wahlrechtsentwicklung Mit der Wahlrechtsreform von 1873 wurde die direkte Wahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses im Reichsrat eingeführt. Das Wahlrecht hatten aber nur Menschen, die einer von vier Kurien (= Wählerklassen) zugeordnet waren („Kurienwahlrecht“) und eine regional unterschiedliche Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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