174 Antisemitismus in der Spätantike und imMittelalter war – die meisten Menschen verbrachten ihr Leben am Ort ihrer Geburt oder nicht weit entfernt –, war Mobilität den Juden seit Generationen vertraut: In der Thora konnten sie lesen, dass es nichts Besonderes war, Länder und Wüsten zu durchqueren, unterwegs zu sein und sich unter Fremden einzurichten; und auch die Lektüre des Talmuds, mit all seinen Geschichten über Streitschlichtung und Gesetzesbruch, über Maße und Gewichte, Schadenersatz und Übervorteilung, Wertminderung und Entschädigung, lehrte sie nicht nur Weltläufigkeit, sondern vermittelte ihnen wertvolle Kenntnisse für Handel und Gewerbe, Wissenschaft und Verwaltung. Diese Kenntnisse machten sich die weltlichen und auch die geistlichen Herrscher gern zunutze. Juden waren als Ärzte ebenso geschätzt wie als Fernhändler und Seefahrer, die im 8. und 9. Jahrhundert fast eine Monopolstellung im Mittelmeerhandel innehatten und die königlichen Pfalzen und bischöflichen Paläste mit Juwelen, Gewürzen, Parfümen und weiteren Luxusgütern belieferten. M4 Brodersen/Dammann: Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland, 2006, S. 42 f. Unterdrückung durch weltliches Recht Ab dem späten 9. bzw. 10. Jh. wurden Juden durch die christliche Ständegesellschaft in eine Sonderrolle gedrängt. Sie durften kein Land besitzen, keinen Ackerbau betreiben und sie wurden von den Kaufmannsgilden und Handwerkszünften ausgeschlossen. Beruflich mussten sie sich auf Klein- oder Trödelhandel oder auf Geldgeschäfte und Zinshandel beschränken. Kirchliche Gesetze zur Stigmatisierung der Juden Nach christlicher Vorstellung verstieß Geldhandel gegen Zinsen gegen die göttliche Lehre, nach kirchlichem Recht war er Christen bis ins 15. Jh. verboten. Auch ein Verbot des Übertritts zum Judentum, ein Verbot der Eheschließung mit Mitgliedern der jeweils anderen Religion und ein Verbot, gemeinsam zu essen, wurden erlassen. Am IV. Laterankonzil 1215 wurden überdies Kleidungsvorschriften für Jüdinnen und Juden erlassen, um jüdische Menschen zu stigmatisieren. Ende des 13. Jh. verlangte man, dass Jüdinnen und Juden nur mehr in bestimmten Vierteln wohnen dürften. In der Spätantike war das Judentum im Römischen Reich rechtlich eine „religio licita“, d. h. eine erlaubte Religion. Freie Juden lebten als Minderheit in der Diaspora (griech. für Zerstreuung) und hatten das römische Bürgerrecht. Mit den römischen Legionen entstanden jüdische Gemeinden rund um das Mittelmeer, bis nach Germanien. In Österreich wurde der älteste Nachweis jüdischen Lebens im Burgenland gefunden. Das „jüdische Amulett von Halbturn“ stammt aus dem 3. Jh. Das Christentumwird Staatsreligion Die Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden blieb nicht nur religiöser Art. Es ging auch um Anhängerschaft und Unterstützung sowie um Anerkennung durch Rom. Im 4. Jh. setzte sich das Christentum im Römischen Reich durch und wurde Staatsreligion. Die Ausübung anderer Religionen wurde bei Strafe verboten. Jüdinnen und Juden galten nun als „Heiden“ und „Ungläubige“. Unterdrückung durch kirchliches Recht Galt das Judentum zunächst noch als „erlaubte Religion“, so wurde nach der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion der rechtlich gesicherte Raum der jüdischen Minderheit deutlich eingeschränkt. Die christliche Kirche erließ in den folgenden Jahrhunderten Gesetze, die auf eine strenge Trennung von jüdischen und christlichen Gläubigen hinwirkten. Jüdinnen und Juden sollten aus dem öffentlichen Leben verbannt werden. Ab dem 5. Jh. wurde ihnen auch der Bau von Synagogen (altgriech. für Versammlung, Gebäude zum Feiern des Gottesdienstes) verboten. Schutz und Aufstiegsmöglichkeiten Im karolingischen Frankenreich erhielt die jüdische Bevölkerung im 8. und 9. Jh. königlichen Schutz, Privilegien und Anerkennung. Juden (und gelegentlich auch Jüdinnen) arbeiteten als Ärzte bzw. Ärztinnen und Händler. Ab dem 9. Jh. waren jüdische Händler und Seefahrer verstärkt im Mittelmeerhandel zwischen Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten tätig. Jüdisches Leben im Mittelalter im Gebiet des heutigen Deutschlands Während die meisten Christen noch für Jahrhunderte Analphabeten bleiben sollten, lernten die jüdischen Jungen, um das göttliche Gebot des Thorastudiums zu erfüllen, schon vor mehr als tausend Jahren Hebräisch lesen. Und während die Gesellschaft um sie herum durch Immobilität gekennzeichnet Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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