142 Geschichtskulturen Erinnern und Gedenken im Wandel Die Vergangenheit wird zu anderen Zeitpunkten unterschiedlich bewertet. An Denk- und Mahnmälern, die sich auf die NS-Herrschaft, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg beziehen, kann man dies aufzeigen. Umgang mit der NS-Vergangenheit Der Umgang in Österreich mit der NS-Vergangenheit spiegelt die jeweiligen politischen Verhältnisse wider. Nach 1945 war die Ansicht weit verbreitet, dass Österreich das „erste Opfer“ des nationalsozialistischen Deutschlands gewesen wäre (Opferthese). Diese Haltung verhinderte lange Zeit eine umfassende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Die österreichische Mittäterschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus wurde über viele Jahrzehnte verdrängt und verleugnet. Zwar wurden kurz nach dem Kriegsende einige Gedenkstätten für die Opfer der NS-Diktatur bzw. Denkmäler für den Widerstand oder auch für die alliierten Armeen errichtet, doch bald konzentrierte sich die Erinnerungskultur nur noch auf die gefallenen Soldaten. Viele Gemeinden errichteten Kriegerdenkmäler oder erweiterten die Denkmäler aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die eigentlichen Opfer der NS-Herrschaft (z. B. Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma, Homosexuelle, geistig und körperlich Behinderte, Zeugen Jehovas) gerieten in Vergessenheit. Auch die Erinnerung an die Opfer des Widerstands wurde verdrängt. Denkmäler für diese Gruppen hätten der Argumentation, Österreich sei selbst nur Opfer des Nationalsozialismus gewesen, widersprochen. Wandel und Neuorientierung Erst ab Mitte der 1980er-Jahre veränderte sich diese Haltung in weiten Kreisen von Politik und Gesellschaft durch die sog. „Waldheim-Debatte“. Sie war infolge der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten (1986) entstanden, da während des Wahlkampfes Vorwürfe gegen ihn laut geworden waren, dass er von NS-Kriegsverbrechen gewusst hätte. Die Feststellung einer internationalen Historikerkommission, dass Waldheim seine Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus lückenhaft und teilweise gefälscht dargestellt hatte, führte zu einer breiten, öffentlich geführten Auseinandersetzung über Österreichs NS-Vergangenheit. Bedeutsam in diesem Prozess war eine Parlamentsrede von Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ), in der er 1991 offiziell ein Bekenntnis zur Mitverantwortung am Holocaust aussprach. Bei einem Israel-Besuch 1993 bat er im Namen der Republik die Opfer österreichischer Täterinnen und Täter um Verzeihung. Die Sichtweise auf die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs hatte sich verändert, es kam zu einer Dekonstruktion (Auflösung) des Opfermythos. Infolge dieser Veränderung wurden auf politischer Ebene in den nachfolgenden Jahren auch Entschädigungsleistungen für bis dahin kaum oder gar nicht berücksichtigte NS-Opfer möglich. Gedenktafel zur Erinnerung an den Freiheitskampf, errichtet 1949, Paulustorgasse, Graz, Foto › Die Opferthese (auch Opfermythos) ist eine Geschichtsinterpretation, die sich auf die „Moskauer Deklaration“ (1943) stützt, in der Österreich als „erstes Opfer der typischen Angriffspolitik Hitlers“ bezeichnet wurde. In der Deklaration wurde Österreich allerdings auch für seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite mitverantwortlich gemacht. Das „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ wird als Zeichen der Neuorientierung der Erinnerungskultur in Österreich gesehen. Es wurde vom Bildhauer Alfred Hrdlicka geschaffen und 1988 am Wiener Albertinaplatz errichtet, Foto, 2005 O S. 148, Ü4 BASISKONZEPT – KONSTRUKTIVITÄT Geschichte wird immer aus verschiedenen Blickwinkeln geschrieben. Das heißt, dass Erzählungen über die Vergangenheit immer von jemandem konstruiert werden. Historikerinnen und Historiker versuchen in historischen Darstellungen zu erklären, wie und warum etwas in der Vergangenheit geschehen ist. Die entsprechenden Untersuchungen werden anhand von Quellen durchgeführt. Diese helfen auch zu verstehen, welche Sichtweisen historischen Darstellungen jeweils zugrunde liegen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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