Vielfach Deutsch 2, Leseheft

Wadjdas Kopf gezogen. Der dünne Stoff dehnte sich und wehte zwischen ihnen, eine schwarze Linie, die von ihm zu ihr führte. Aber Wadjda hatte sich den Schleier fest um den Hals gebunden. Abdullah hatte so viel Schwung, dass er sie hinter sich her schleifte – sie fiel hin. Fassungslos schüttelte Wadjda ihre brennenden Handflächen. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Ihre Haare waren zu sehen. Instinktiv hob sie die Hände, um sich zu bedecken. Ein paar Meter vor ihr bremste Abdullah scharf. Er drehte sich um und blinzelte ungläubig, als er die seltsame Sammlung von bunten Spangen sah, die willkürlich über Wadjdas Kopf verteilt waren. Er kannte Wadjda schon ewig, deshalb schockierte ihn der Anblick ihrer Haare nicht. Erst letztes Jahr hatte sie angefangen, den Schleier zu tragen, und er rutschte ständig runter, wenn sie zusammen spielten. Ehrlich gesagt hatte Abdullah manchmal Mühe, Wadjda zu erkennen, wenn sie verschleiert war. Ohne Schleier war sie irgendwie mehr sie selbst. Gerade als Wadjda die Hand ausstreckte und ihm den Schleier wegriss, stolperte sie und fiel hin – dieses Mal mit noch mehr Wucht. Aua! Der Schmerz schoss ihr durch Knie und Ellenbogen. Doch damit nicht genug, sie war in die einzige Matschpfütze geklatscht, die es im trockenen Riad gab. Ihr einst so ordentlicher schwarzer Schleier lag im Schlamm. Vor ihr blieb Abdullah mit quietschenden Bremsen stehen und riss geschockt die Augen auf. Mit Matsch in den Haaren und im Gesicht sah Wadjda zum Fürchten aus. Sie setzte sich auf und warf ihm einen wütenden Blick zu. „Du Vollidiot! Du bist so blöd! So kann ich doch nicht zur Schule gehen!“ Er hatte es zu weit getrieben. Abdullah ließ die Schultern hängen. Er wollte gerade vom Rad steigen und ihr helfen, als ein paar Jungen aus einem Laden in der Nähe kamen. Genau wie er trödelten sie auf dem Weg zur Schule. Sie schlossen ihre Fahrräder auf und Abdullah sah, wie der eine ihn anschaute. „Dachtest du wirklich, du könntest mich einholen?“, rief er Wadjda zu. Er schaute sie nicht an und sein Ton war ungewohnt schroff. Das kannte sie nicht von ihm, irritiert sah Wadjda ihn an. Dann fasste sie sich und schrie: „Ich hab dich erwischt! Nicht mal auf deinem blöden Fahrrad kannst du mir entkommen.“ Die Jungen kurvten jetzt auf ihren Rädern vor dem Laden herum und jagten sich. Abdullah hätte gern mitgemacht. Aber er wollte auch Wadjda helfen. Er war hin- und hergerissen. „Tja, sieht ganz so aus, als ob du zu spät kommen würdest. Und voller Matsch bist du auch. Weißt du was? Wenn du auch so ein blödes Fahrrad hättest, könntest du nach Hause fahren und dich umziehen! Aber du hast keins. Also geht das wohl nicht.“ Und damit stellte er sich auf die Pedale und fuhr davon, er legte sich mächtig ins Zeug – und Sekunden später war er schon bei der Gruppe von Jungen angekommen. 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 19 Unterschiedliche Perspektiven erkennen 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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