Vielfach Deutsch 2, Leseheft

Aber Sam findet das gar nicht so abwegig. Zumindest ist beides unsichtbar. Sam merkt, wie sich seine Muskeln langsam zu entspannen beginnen, und er lässt die Knie ein wenig sinken, was für seinen Vater eine klare Einladung zum Reden ist. Er erzählt von der Arbeit. Von dem neuen Auto, das er sich nicht kaufen kann und davon, dass er endlich einen Friseurtermin für Tante Ulli vereinbaren muss. Sam ist froh, dass er selbst nichts sagen muss außer Ja und Aha. Seine Mutter hat weniger Anstand und fragt ihn sofort, wieso sein T-Shirt nass ist. Und seine Hose. „Ich hab mein Badezeug daheim vergessen.“ „Und dann bist du mit voller Montur ins Wasser gesprungen?“ Sam zuckt mit den Schultern. „Wieso?“, versucht sie es noch einmal, aber Sam weiß nicht, was er sagen soll, deswegen zuckt er wieder mit den Schultern. „Ich geh duschen.“ „Sam …“, sagt seine Mutter. Und als er sich umdreht und geht: „… gib das nasse Zeug gleich in die Waschmaschine, ja?“ Mit so einem verständnisvoll besorgten Unterton, dass ein Teil von Sam am liebsten zurückgehen und sie umarmen möchte. Nur kurz gehalten werden. So wie früher. Später liegt er auf seinem Bett und hält sich die Nase zu. Unter der Dusche war alles besser, aber jetzt, nach dem Abendessen, kommt ihm der Chlorgeruch wieder stärker vor. Er muss an Christopher denken und an sein Lachen, das viel zu laut war und alle anderen ansteckte. Sogar Sophia. „Schwimmen in Jeans verboten!“, schrie die Bademeisterin und Sophia versuchte zuerst, ernst zu bleiben, aber dann schaffte es ein kleines Glucksen aus ihrem Mund und dann noch eines und noch eines, bis sie mindestens so laut lachte wie der Scheiß-Christopher. Mit dem einzigen Unterschied, dass Sam es Sophia nicht übel nimmt. „Da, nimm mein Handtuch“, sagte sie später und setzte sich neben ihn auf die Bank. „Danke.“ „Wieso hast du das gemacht?“ „Keine Ahnung.“ „Du hast so lächerlich ausgesehen. Mit dem riesigen T-Shirt, das war wie ein Ballon um dich herum im Wasser.“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte sie verlegen an. „Sorry, dass ich gelacht hab“, sagte Sophia. „Es passt schon, es ist okay“, antwortete Sam, aber in Wirklichkeit war nichts okay. „Was soll ich machen?“, fragt er Tante Ulli, die ihn verstehen würde, weil sie auch kein Wasser mag, aber sie muss auch nächste Woche nicht schon wieder zum Schwimmunterricht. „Magst du Platz tauschen?“ Tante Ulli sagt nichts, und Sam muss weinen. 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 Aus: Agnes Ofner: Nicht so das Bilderbuchmädchen. Jungbrunnen, Wien 2019. 11 Unterschiedliche Perspektiven erkennen 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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