seine Haube aufhat, bleibt er schön ruhig. Ohne seine Haube kann ich nicht wissen, wie er sich verhält.“ Sechs Jahre lang waren wir zur Schule gegangen und bis zu diesem Moment dachte ich, wahrscheinlich alles gelernt zu haben, was ich jemals würde lernen müssen. Ich wusste, wie man das Volumen eines Würfels berechnet. Ich wusste, wer die Sonnenblumen gemalt hatte. Ich kannte die Gesetze der Symmetrie und wusste, wie wichtig es ist, fünfmal am Tag Obst zu essen. Aber in meiner gesamten Schulzeit hatte ich noch keine einzige Unterrichtsstunde zumThema Adlerberuhigung gehabt. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, dass Menschen möglicherweise die Fähigkeit besitzen mussten, Adler zu beruhigen. Ich wollte mich mit dem Neuen unterhalten. Über Adler. Mimi dagegen schien den ganzen Zwischenfall mit Dschingis nur als kleine Unterbrechung der weltweiten Diskussion übers Schminken zu begreifen. Nur die Jungs zeigten Interesse. In der Mittagspause umringte ein ganzer Pulk von ihnen Dschingis und Nergui, um zu fragen, ob sie wirklich Adler besäßen und wie groß die wären und ob Dschingis ein Lügner war oder nicht. „Wo kriegt ihr die Adler denn her? Vom Adlerladen?“ – „Da, wo ich herkomme, hat jeder mehrere Adler.“ – „Und wo ist das?“ – „In der Mongolei.“ Sie stupsten den kleinen Nergui, der seine Mütze immer noch heruntergezogen hatte, bis über die Augen. Sie wollten Adlerschreie von ihm hören. Nergui verkroch sich in seinem Mantel, streckte die Arme aus den Ärmeln hervor und kreuzte sie über seiner Brust. Beide Ärmel schlackerten, wodurch er wirklich wie ein Vogel aussah. Irgendwann entdeckte mich Dschingis hinter den Jungs und rief: „Du! Du musst kommen und mir helfen!“ Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Aber ich war absolut begeistert, dass man mich fragte. Ich schob mich an den Jungs vorbei, dann baute ich mich vor ihnen auf. „Okay“, sagte ich. „Weitergehen. Habt ihr denn noch nie zwei mongolische Brüder gesehen?“ – „Nein.“ – „Na gut, dann habt ihr’s jetzt. Also geht weiter.“ – „Mongolisch, von wegen!“ Das war Shocky. Warum sollten sie denn aus der Mongolei hierherkommen? „Wahrscheinlich sind sie bloß aus Speke.“ Man einigte sich, dass die Brüder wahrscheinlich aus Speke kamen, nicht weit entfernt vom Liverpooler Flughafen. Dann gingen die Jungs wieder Fußball spielen. „Steh bitte still“, sagte Dschingis. Er schob mich ein wenig zurück und zog dann etwas aus seiner Tasche, das wie ein altmodisches Radio aussah. Als er auf einen Knopf drückte, ertönte ein surrendes Geräusch, die obere Hälfte öffnete sich und eine Linse schoss hervor. Heute weiß ich, dass es eine Polaroidkamera war. Aber damals hielt ich sie für irgend so eine verrückte, glotzende Kuckucksuhr. „Ich brauche ein Bild“, sagte er. „Damit ich nicht vergesse, wer du bist. Du wirst hier unser Guter Ratgeber. Okay?“ Inzwischen war Mimi zu uns rübergekommen – sie hörte das Geräusch einer Kamera in Aktion auf eine Entfernung von 500 Metern. Wir setzten beide unser charmantestes Lächeln auf und im selben Moment erschienen Shocky und Duncan und schummelten sich ins Bild. Fast sofort, nachdem Dschingis den Auslöser gedrückt hatte, kam ein Stück Papier vorne aus der Kamera. Dschingis zog eine Folie ab, wedelte das Stück Papier durch die Luft, und zum Vorschein kamen wir. Eingefangen für die Ewigkeit. Er schrieb etwas auf das Foto. Unser Guter Ratgeber, schrieb er. 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 die Symmetrie: mathematischer Fachbegriff, wenn zwei spiegelgleiche Teile entstehen die Polaroidkamera: Sofortbildkamera 43 Jugendliteratur lesen und verstehen 4 Nur zu Prüfzwec en – Eigentum des Verlags öbv
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