Vielfach Deutsch 2, Arbeitsheft [Prüfauflage]

Die folgende Sage erzählt von einer weiteren Gefahr, die Odysseus und seine Gefährten auf der Heimreise von Troja nach Ithaka bestehen mussten. Höre den Text mit geschlossenen Augen und stelle dir alles gut vor. Odysseus bei den Sirenen Odysseus ging durch das Schiff und rief die Gefährten zusammen. „Hört zu, Freunde!“, sagte er. „Zuerst gelangen wir zur Insel der Sirenen. Wer ihren zauberischen Gesang vernimmt, kehrt nie wieder zurück zur Heimat. Ich aber gedenke das Sirenenlied zu hören und dennoch zurückzukehren. Ihr müsst jedoch genau befolgen, was ich euch jetzt befehle! Wenn wir uns der Insel nähern, werde ich eure Ohren mit Wachs verkleben. Ihr aber bindet mich mit festen Seilen aufrecht an den Mastbaum und fesselt mir Hände und Füße. Und wenn ich euch auch bitten oder drohen sollte, so löst mich ja nicht, sondern bindet mich noch fester!“ Das schien den Männern ein wunderliches Abenteuer und sie lachten und versprachen, alles zu tun, was Odysseus geboten hatte. Sie waren noch nicht lange gefahren, da tauchte vor ihnen in der Ferne ein flacher grüner Strand aus der grauen Flut, darauf trieb der Wind das Schiff zu. Unterdessen hatte Odysseus mit dem Schwert kleine Stücke von einer Wachsscheibe abgeschnitten und knetete sie so lange, bis sie weich wurden. Damit verstopfte er den Gefährten der Reihe nach sorgfältig die Ohren. Sie aber banden ihn sogleich an den Mast. Jetzt schlief mit einem Mal der Wind ein, das Wasser wurde glatt und ruhig, die Segel hingen schlaff herab und das Schiff lag alsbald still. Die Männer schüttelten den Kopf und rannten zu den Ruderbänken. Aber ehe sie zu rudern begannen, spähten sie noch schnell hinüber zum Strand: Da war eine liebliche blumige Wiese und zwei Frauen saßen im Grase, anmutig anzusehen wie Göttinnen. Ja – aber dort … was lag denn da im Sand verstreut? Schädel, bleiche Gebeine, Gerippe, verbrannt von der glühenden Sonne … Nein, es war doch besser, hier schnell vorüberzufahren! Hastig beugten sie sich über die Ruder … Unsagbar süß und lockend kam Gesang über das Wasser: das Lied der Sirenen. Odysseus hörte es und das Herz tat ihm weh davon und Tränen schossen ihm in die Augen, ein so wilder Zauber ging von den Tönen aus. Er musste … ja, er musste hinüber! Unterdessen waren die beiden Frauen ganz nahe ans Ufer gekommen. Er sah, wie sie ihm winkten. Und jetzt riefen sie ihn an. „Odysseus!“, sangen die süßen Stimmen. „Komm, du unbesiegbarer Krieger! Lenke dein Schiff ans Land und lausche unserem Gesang.“ So lockten die süßen Stimmen. Da wandte Odysseus den Kopf zurück zum Steuermann. „Lenke hinüber ans Ufer!“, befahl er. Aber der Steuermann konnte ihn nicht hören und das Schiff fuhr weiter geradeaus, in sicherer Entfernung von der Insel der Sirenen. Vergebens wies Odysseus mit dem Kopf hinüber. Sein Gesicht war rot vor Zorn, die Augen blitzten und manchmal brüllte er laut einen neuen Befehl. Aber niemand gehorchte ihm, denn niemand konnte ihn hören. Wütend versuchte er, mit aller Gewalt loszukommen. Da banden ihn zwei Gefährten mit noch mehr und noch stärkeren Seilen. Währenddessen ruderten die Übrigen, dass ihnen der Schweiß über den Rücken lief, und so ließen sie bald die Insel samt den Sirenen hinter sich. Der Gesang wurde immer leiser und erstarb endlich, und als sie weit genug entfernt waren, nahmen die Männer das Wachs aus den Ohren und banden Odysseus los. Aus: Auguste Lechner: Die Abenteuer des Odysseus. Arena Taschenbuch, Würzburg 2018 (gekürzt). 4 Ó Hörtext qu7em6 nach Ü10 gedenken: beabsichtigen, vorhaben der Mastbaum: stehendes Rundholz auf Schiffen, an dem das Segel befestigt ist das Gerippe: Knochengerüst, Skelett 5 10 15 20 25 30 35 40 ersterben: allmählich aufhören 3 32 Sagen nacherzählen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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