Mit Rike warst du immer nur Matrose. […] Erinnere dich mal, als ihr im Trainingslager wart und der süße Alexander euch eingeladen hat mit zum Tanzen in die Campingplatzdisco zu kommen. Du bist im Zelt geblieben, damit Rike ihn für sich allein haben konnte. Erinnere dich mal an deine Brieffreundin aus Amerika, der Rike plötzlich auch schreiben wollte. Ihr hattet euch immer so viel zu erzählen, nachdem du Rike ihre Adresse gegeben hattest, meldete sie sich nie wieder. Wie oft hat sie in der Schule bei dir abgeschrieben und war dir nie dankbar dafür, sondern immer eifersüchtig, dass du schlauer warst als sie. Die benutzt dich doch! Wieder Wende. Es geht in die zweite Hälfte. Meine Kräfte lassen nach. Einziger Anhaltspunkt: der Streifen aus schwarzen Kacheln auf dem Beckengrund. Vor meinen Augen nur das Blau des Wassers. Schwimm! Ich sehe bunte Fische. Ich schwimme im Meer, das Wasser ist salzig und klar, die Fische tummeln sich um mich wie die Schmetterlinge im Garten des Märchenhauses, Schwärme von schillernden Schmetterlingen. Unser Fortbleiben über Nacht hatte uns einen Riesenärger eingehandelt. Vor lauter Sorge hatten unsere Eltern die Polizei alarmiert. Die ganzen Sommerferien waren danach gestorben, nicht mal für mein gutes Zeugnis wurde ich gelobt, Rike durfte ich ein halbes Jahr lang nicht mit nach Hause bringen. Aber der Abend mit ihr im Märchengarten! Wir waren Prinzessinnen eines vergessenen Königreichs, wir pflückten die weißen Wiesenblumen und flochten sie zu Kränzen, wir streichelten die Hummeln über ihre flaumigen Rücken, wir stiegen auf einer rostigen Leiter in den mit Efeu zugewachsenen ehemaligen Pool und führten unsere Arme in langsamen, pantomimischen Schwimmbewegungen durch die Luft. Schwimm! Jetzt! Letzte Wende. Noch fünfzig Meter. Ich bin die Erste, die in die Zielgerade geht, gönne mir einen sekundenschnellen Blick zurück. Sie sind mir auf den Fersen. Sie holen mich ein. Ich will aber gewinnen. Ich will nicht mehr länger verzichten für Rike. Ich will sie nicht verlieren, aber ich will mir mit diesem Rennen auch selbst etwas beweisen. Die Zuschauer johlen und feuern uns an. Die Bahn rechts kommt näher, ihre Stärke liegt im Endspurt. Rike ist weit abgeschlagen. Mit jeder Bewegung lasse ich Rike weiter zurück, mit jedem Atemzug entscheide ich mich mehr für mich und gegen unsere Freundschaft. Die Konkurrentin holt mich ein. Noch ein paar Meter. Jetzt nicht nachlassen. Gib alles! Ich schlage an. Es ist vorbei. Ich stoße gegen die Beckenmauer. Meine Füße tasten den Grund, ich schnappe nach Luft, hab ich gewonnen, hab ich? Ich habe. Jubelnde Eltern, jubelnder Trainer. Traumzeit. Von Rike nichts zu sehen. Sie ist Dritte oder Vierte, sie dreht sich zur anderen Seite, weg von mir, steigt aus dem Wasser. „Rike!“ 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 38 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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