Treffpunkt Deutsch 2 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

ich möchte sagen: Mir ist schlecht, ich bin krank, ich will aussteigen. „Fertig!“ Ich will aussteigen, um Rike nicht zu verlieren. Neben wem soll ich in der Schule sitzen, mit wem gemeinsam für den süßen Alexander aus der Jungenmannschaft schwärmen, mit wem kiloweise Eis essen und nachher über die kleinen Fettpölsterchen jammern, mit wem schrille Klamotten kaufen und auf Inlineskates singend durch die Fußgängerzone fahren: „That’s the way – aha – aha – I like it!“ Was ist schon eine blöde Schwimmmedaille! Ohne Rike – Einsamkeit und Langeweile. „Los!“ Startsprung! Meine Sprunggelenke reagieren unmittelbar auf das Signal. Ich kann ihnen nicht befehlen: „Halt, stopp, bleibt hier, ich hab’s mir anders überlegt!“ Sie stoßen mich vom Startblock ab, meine Arme schnellen vor, mein Rücken biegt sich wie ein Bogen, meine langen Beine strecken sich, der Kopf neigt sich nach vorn, mein ganzer Körper ist Spannung, Flug und Kraft und Lust am Leben. Ich schieße pfeilartig, flach hinein ins kachelblaue Wasser. Rike? Allein durch meinen gekonnten Sprung bin ich ihr weit voraus. Sie hat die Bahn links neben mir, platscht schräg hinter mir ins Becken, halb so elegant, halb so schnell, halb so gut. Ein Teil von mir will innehalten, um auf sie zu warten, ein anderer den Abstand vergrößern. Meine Arme und Beine machen, was man ihnen beigebracht hat. Sie durchpflügen das Wasser, arbeiten sich einen Vorteil aus, sorgen dafür, dass mein Puls immer schneller schlägt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, deshalb tue ich, was ich kann. Rike bleibt auf der Strecke. „Na und!“, sagt eine Stimme in mir. Sonst bist du es doch immer gewesen, die den Kürzeren zog, die freiwillig Rücksicht nahm und die zweite Geige spielte. Erinnere dich nur mal an die Geschichte mit dem Märchenhaus! Rike wollte heimlich in dem alten, leer stehenden Haus mit dem großen verwilderten Garten übernachten, weil sie wegen ihres schlechten Zeugnisses Streit mit ihren Eltern hatte. Ihre Eltern sollten sie verzweifelt suchen und dabei merken, wie sehr sie Rike liebten, egal ob mit guten oder schlechten Noten. Wir stiegen durch ein eingeschlagenes Fenster ein, rollten die unbemerkt aus unserem Keller stibitzten Schlafsäcke aus, picknickten in den hohen, stuckverzierten Räumen. Meine Eltern ahnten nichts, wir hatten keinen Streit und ich wollte eigentlich nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machten, aber Rike setzte mich unter Druck. Ihr Plan war nur möglich, wenn ich schwieg und mitmachte, jede echte Freundin, so versicherte sie mir, würde ihr in dieser Situation zur Seite stehen. Außerdem könne ja nichts passieren und meine Eltern würden nicht böse, sondern einfach erleichtert sein, wenn wir am nächsten Morgen wohlbehalten wieder vor der Tür stünden. So einen Quatsch mache ich nie wieder. Da! Vor mir die Beckenwand. Wende! Eintauchen, drehen, den Körper zusammenklappen und ruckartig aufschnellen lassen – ich liebe diesen komplizierten Bewegungsablauf, ich bin genial, reine kontrollierte Energie, Kapitän des schnellsten Boots der Welt. 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 Jugendbücher 37 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=