Treffpunkt Deutsch 2 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

Eine Geschichte von Flucht – Inhalte darstellen und Fortsetzungen schreiben Karin Ammerer: Auf der Flucht Mayssam und ihre Cousine Sozan müssen nach Kriegsbeginn aus ihrer Heimat Syrien fliehen. Die Familie wird auf der Flucht getrennt und die beiden Mädchen sind auf sich alleine gestellt. Ein Kontaktmann soll ihnen zur Flucht über die Grenze in die Türkei verhelfen. Einen Moment zögere ich. […] Dann schnappen Sozan und ich uns die Rucksäcke und rennen los, so schnell wir das in unseren Abayas1 können. Wir hetzen durch den Wald, als wäre der Leibhaftige hinter uns her. Weder Dornen noch Äste, Gestrüpp oder Baumstämme, die über dem Weg liegen, halten uns auf. „Ich kann nicht mehr“, keucht Sozan schließlich. Erschöpft bleiben wir stehen und stützen uns auf unseren Oberschenkeln ab. „Wir sind weit genug entfernt“, japse ich und hoffe, dass das stimmt. „Glaubst du, dass wir diesem Omar vertrauen können?“, fragt Sozan. Ich zucke mit den Schultern, denn ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass er unsere einzige Hoffnung ist. Wir laufen weiter. Bald sind die ersten Häuser zu sehen. Das muss das Dorf sein, von dem Said gesprochen hat. Soldaten marschieren auf und ab, halten Wache. Wir legen uns auf den Boden und beobachten. Erst als es dunkel wird, robben wir langsam vorwärts bis zum Waldrand. „Wie sollen wir denn unbemerkt ins Dorf kommen?“, flüstert Sozan. Frauen ist es nicht erlaubt, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen. Man würde uns sofort verhaften. „Pst“, mache ich, obwohl die Männer viel zu weit weg sind, um uns zu hören. Ich muss nachdenken. Plötzlich knackt ein Ast hinter uns. Erschrocken drehen wir uns um. Ein Mann hält Sozan den Mund zu, bevor sie schreien kann. Sie wehrt sich, tritt und schlägt mit den Armen wild um sich. Auch ich trommle mit den Fäusten auf den Fremden ein. „Ich bin Omar“, bringt er hastig hervor. „Said hat mich geschickt.“ Ich atme erleichtert auf. Auch Sozan beruhigt sich. Omar führt uns zu einer kleinen Hütte im Wald. Dort können wir uns mit frischem Obst und Fladenbrot stärken. Wie gut das tut! Fast schon habe ich vergessen, wie eine Orange schmeckt. „In zwei Stunden werden die Wachmänner abgelöst“, erklärt uns Omar. „Ein Freund von mir hat Dienst. Er wird uns keine Probleme machen.“ Ich greife zu einem weiteren Orangenstück, stecke es in den Mund und genieße den Saft. Dann holt mich die Realität ein: Wie es wohl Papa und meinen Brüdern geht? Ob sie auch zu essen haben? Und Mama, Lili und meine Großeltern? Ich weiß nicht einmal, ob sie noch am Leben sind. Auf einmal habe ich einen seltsamen Geschmack im Mund. Ich habe keine Ahnung, was es ist. Mein Bauch tut weh. Irgendetwas schnürt mir die Kehle zu. „Ist alles in Ordnung?“, fragt Omar, als ich das angebissene Orangenstück zurück auf den Teller lege. „Ja“, antworte ich wenig überzeugend. „Keine Angst“, versucht Omar mir Mut zu machen. „Du kannst meinem Freund vertrauen. Er wird uns helfen.“ Ich schenke ihm ein vorsichtiges Lächeln. Vertrauen ist ein großes Wort für mich geworden. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 1) Abaya = ein traditionelles Überkleid 34 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=