Annika Thor (übersetzt von Angelika Kutsch): Löcher in den Ohren Solange Nora denken kann, war Sabina ihre beste Freundin. Doch jetzt hat Sabina eine neue beste Freundin: die beliebte Fanny. Für Nora interessiert sie sich kaum noch. Aber Nora kämpft um Sabinas Freundschaft … Dabei hat sie Gedanken wie diese: „Ich hatte gedacht, alles würde danach anders werden. Dass ich eine von denen in der Clique1 sein würde. Eigentlich wollte ich das ja gar nicht. Ich wollte, dass es Sabina und ich waren. Nur wir. Aber mit zur Clique zu gehören war jedenfalls besser, als allein zu sein.“ […] Wir gingen zu McDonald’s und kauften uns etwas zu essen. Das nahmen wir mit zu Fanny, und nachdem wir mit dem Essen fertig waren, probierte ich Fannys Computerspiele aus. Sabina saß vor dem Spiegel und schminkte sich die Augen mit einem neuen Augenpinsel, den Fannys Mutter im Duty-free-Shop gekauft hatte. […] „Darf ich mal deine schwarze Jeans anprobieren?“, fragte Sabina. „Klar“, sagte Fanny, „sie liegt in der obersten Schublade.“ Sabina öffnete Fannys Schrank und holte eine neue schwarze Jeans heraus. Sie zog ihre eigene aus und stieg in Fannys. Dann drehte und wendete sie sich vorm Spiegel, um zu sehen, wie sie saß. Sie war etwas zu groß. „Ich leih sie dir, wenn du willst“, sagte Fanny. „Sie ist ein bisschen zu weit“, sagte Sabina. „Ich schenk sie dir. Du kannst sie dir enger machen“, sagte Fanny. „Ich krieg eine neue, wenn Mama und Papa nach London fahren.“ „Vielen Dank“, sagte Sabina. Dann wurde es still, während sie ihre alte Jeans wieder anzog. Ich übte die Wörter einige Male im Stillen. Dann sagte ich: „Ich war in diesem Sommer mit einem Jungen zusammen. Auf dem Land, in Dalarna.“ Sabina wurde aufmerksam. „Wie heißt er? Ist er hübsch?“ „Martin“, sagte ich. Das hatte ich mir schon länger ausgedacht. Ich hatte seine Haarfarbe bestimmt und die Augenfarbe und an welchem Tag er Geburtstag hatte. „Hübscher Name“, sagte Sabina. „Hast du ein Foto von ihm?“ Ich setzte mich vor den Spiegel, damit ich ihr nicht in die Augen sehen musste. Sie stellte sich hinter mich und fing an, mit meinen Haaren zu spielen. „Ich hab eins gehabt, aber ich hab’s verloren.“ „Schade“, sagte Fanny. Ich sah ihr Gesicht im Spiegel und konnte ihr ansehen, dass sie mir nicht glaubte. Vielleicht war ich jetzt doch etwas zu weit gegangen? „Du müsstest Löcher in den Ohren haben“, sagte Fanny. „Findest du nicht auch?“ „Ja, find ich auch“, sagte Sabina. Sie hatte drei Löcher in dem einen Ohr und zwei in dem anderen. In den Löchern trug sie kleine Silberringe. Fanny hatte auch Löcher. „Sollen wir dir welche machen?“, fragte Fanny. Ich bin nicht besonders ängstlich, aber Blut und Spritzen und so was mag ich nicht. Außerdem hatte ich Mama versprochen, mir keine Löcher in die Ohren machen zu lassen, bis ich fünfzehn bin, weil man eine Nickelallergie kriegen kann. „Ich weiß nicht“, sagte ich. „Es ist schon zehn vor zwölf. Wir müssen doch bald gehen?“ „Das geht ganz schnell“, sagte Fanny. „Komm schon. Ich sag dir, es sieht echt geil aus!“ Ich starrte direkt in meine eigenen Augen im Spiegel. Ich sah aus wie eine verschreckte Maus, die von einer Schlange hypnotisiert wird und nicht weglaufen kann. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 Mut, für sich einzutreten – Klären, was wichtig ist 60 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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