Evelyne Stein-Fischer: Die Mutprobe, Teil 1 „Diesmal kommst du mit!“, bestimmt Jennifer. Sie legt ihre Hand auf Patricks Schulter, zwingt ihn, sie kurz anzusehen. Schnell senkt Patrick den Blick, fixiert eine unbestimmte Stelle auf dem Asphalt. „Wenn du dich wieder nicht traust, musst du dich nicht wundern, wenn dich die anderen auslachen“, sagt Jennifer. „So schau mich doch endlich einmal an, was guckst du denn ständig auf den Boden? Suchst du was?“ „Nein“, sagt Patrick. „Ist so meine Art.“ „Dabei hast du so schöne braune Augen.“ Patrick spürt, wie er rot wird. Jetzt kann er sie schon gar nicht ansehen. Jennifer ist wirklich ein außergewöhnliches Mädchen. Sie gehört zur Turmbande und sie ist viel mutiger und stärker als er. Sie war schon viermal bei Einbruch der Dunkelheit in der Turmruine auf dem Hügel, von der sich die Einwohner im Dorf schaurige Geschichten erzählen. Und sie sagt David, dem Anführer der Turmbande, den die meisten fürchten, laut ihre Meinung ins Gesicht. Aber auch die anderen Kinder in der Bande sind mutig und stark: Ivan, Mike, Nele, Adrian und Fabian. Sie alle gehören dazu und jeder von ihnen hat bereits die Mutprobe bestanden. Oben auf dem schaurigen Hügel. Nur Patrick nicht. Der ist bloß geduldet. Der ist ein Feigling, sagen sie. […] Gestern hat sich Jennifer jedoch wieder für ihn eingesetzt und gesagt: „Ich kann Patrick ganz gut leiden. Außerdem hat er die besten Computerspiele daheim, der kennt sich echt gut aus. Wir könnten es ja noch mal mit ihm versuchen. Dann lädt er uns vielleicht zu sich ein.“ Jetzt wollen ihn die Kinder in der Dämmerung mit auf den Turm nehmen und sehen, ob er sich wohl traut, allein durch das Loch in der alten Mauer zu robben und in den Turmkeller hinabzusteigen. Das muss jeder, der zur Bande gehören will. Und als Beweis, dass er wirklich ganz unten war, soll er einen faustgroßen roten Stein mitbringen. Nur dort, an der tiefsten Stelle, in einer abbröckelnden Mauerecke, liegen sie: die Mutprobesteine. Patrick will es versuchen. Immer wieder. Doch wenn er kurz davor ist, ja zu sagen, wächst die Angst. In der Turmruine gibt es Spinnen und Molche und Fledermäuse und einen tiefen Brunnenschacht. Wenn er das Turmverlies durchqueren will, um zu den Steinen zu gelangen, kann er sich nur am Geruch des faulenden Grundwassers orientieren und muss einen großen Bogen um den gefährlichen Brunnen machen. Aber dort unten gibt es noch Schlimmeres: den „Geköpften“, besser gesagt, seine Überreste in Form menschlicher Gebeine. Die Kinder behaupten, sie im Turm liegen gesehen zu haben. Nur Jennifer sagt: „Aber was, das sind bloß ein paar alte Hundeknochen!“ Längst haben die Kinder eine gruselige Geschichte um den Toten gesponnen und sie im Dorf verbreitet. Manche erzählen, sie sei nichts als ein Hirngespinst, doch für die Kinder bleibt das Gespinst ein Gespenst, das nachts im Turm spukt und unheimliche Rufe ausstößt. „Diesmal schaffst du es!“, erklingt plötzlich wieder Jennifers Stimme neben Patrick. „Die anderen haben es schließlich auch geschafft!“ „Die trauen sich eben. Aber ich …“ „Na was denn? Wenn du’s nicht versuchst, wirst du es nie schaffen! Du willst doch mit uns spielen. Nicht immer nur so mitlaufen, oder?“ „Ich hab eben Angst!“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 Mut beweisen – Eine Geschichte fortsetzen 56 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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