Treffpunkt Deutsch 1 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

Theodor Storm: Die Regentrude Maren selbst stand in einem leeren sandigen Becken, in welches sonst ein Wasserfall über die Felsen hinabgestürzt sein mochte, der dann unterhalb durch die Rinne seinen Abfluss in den jetzt verdunsteten See gehabt hatte. Sie suchte mit den Augen, wo wohl der Weg zwischen den Klippen hinaufführe. Plötzlich aber schrak sie zusammen. Denn das dort auf der halben Höhe des Absturzes konnte nicht zum Gestein gehören; wenn es auch ebenso grau war und starr wie dieses in der regungslosen Luft lag, so erkannte sie doch bald, dass es ein Gewand sei, welches in Falten eine ruhende Gestalt bedeckte. – Mit verhaltenem Atem stieg sie näher. Da sah sie es deutlich; es war eine schöne mächtige Frauengestalt. Der Kopf lag tief aufs Gestein zurückgesunken; die blonden Haare, die bis zur Hüfte hinabflossen, waren voll Staub und dürren Laubes. Maren betrachtete sie aufmerksam. „Sie muss sehr schön gewesen sein“, dachte sie, „ehe diese Wangen so schlaff und diese Augen so eingesunken waren. Ach, und wie bleich ihre Lippen sind! Ob es denn wohl die Regentrude sein mag? – Aber die da schläft nicht, das ist eine Tote! Oh, es ist entsetzlich einsam hier!“ Das kräftige Mädchen hatte sich indessen bald gefasst. Sie trat ganz dicht herzu, und niederkniend und zu ihr hingebeugt, legte sie ihre frischen Lippen an das marmorblasse Ohr der Ruhenden. Dann, all ihren Mut zusammennehmend, sprach sie laut und deutlich: „Dunst ist die Welle, Staub ist die Quelle! Stumm sind die Wälder, Feuermann tanzet über die Felder!“ Da rang sich ein tiefer klagender Laut aus dem bleichen Munde hervor; doch das Mädchen sprach immer stärker und eindringlicher: „Nimm dich in Acht! Eh du erwacht, Holt dich die Mutter Heim in die Nacht!“ Da rauschte es sanft durch die Wipfel der Bäume, und in der Ferne donnerte es leise wie von einem Gewitter. Zugleich aber und, wie es schien, von jenseits des Gesteins kommend, durchschnitt ein greller Ton die Luft, wie der Wutschrei eines bösen Tieres. Als Maren emporsah, stand die Gestalt der Trude hoch aufgerichtet vor ihr. „Was willst du?“, fragte sie. „Ach, Frau Trude“, antwortete das Mädchen noch immer kniend. „Ihr habt so grausam lang geschlafen, dass alles Laub und alle Kreatur verschmachten will!“ Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich, aus schweren Träumen zu kommen. Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: „Stürzt denn der Quell nicht mehr?“ „Nein, Frau Trude“, erwiderte Maren. „Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?“ „Er steht in der heißen Sonne und schläft.“ „Weh!“, wimmerte die Regenfrau. „So ist es hohe Zeit. Steh auf und folge mir, aber vergiss nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!“ Quelle: Theodor Storm: Die Regentrude. https://www.projekt-gutenberg.org/storm/regentrd/regentr3.html, 11.5.2023 (gekürzt) Suche im Österreichischen Wörterbuch die Ausdrücke „Trud“ und „verschmachten“ und lies die Bedeutung. Falls dir weitere Wörter unbekannt sind, suche auch diese. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 1 Vielerlei Sprüche – Gedichte als Beschwörungsformeln 46 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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