Vielleicht hilft es, wenn ich den Geist in Meerwasser bade? Ich schnappe die Dose und renne ins Wasser, dass es nur so spritzt. Luftblasen steigen auf, als ich die Dose ins Wasser tauche. Die rosa Zuckerwatte schwappt mit den Wellen hin und her. Jetzt sieht der Meergeist eher aus wie einer von Mamas Spüllappen. Ich lasse den Lappen ein Weilchen hin und her schwimmen, bevor ich die Dose aus dem Wasser hole. „Geht es dir jetzt besser?“, frage ich. „Du hast wohl Quallen im Oberstübchen! Was meinst du, weshalb Meergeister nicht Mineralwassergeister heißen? Weil sie MEERWASSER brauchen, du Sandwurm!“ „Dann schmeiße ich dich jetzt ins Meer, dir geht es ja wieder gut.“ „Wieder gut? Soll ich in Zukunft wie eine rosa Alge durchs Wasser treiben? Nein, so einfach kommst du nicht davon. Wenn man etwas anstellt, muss man es wieder in Ordnung bringen.“ […] „Willst du wissen, was du machen musst?“, fragt der Meergeist. Ich nicke. „Heute Nacht, wenn der Stern des silbernen Delfins am hellsten scheint, wirst du zum Strand gehen und sagen: Meer, Meer, Meergeisters Meer, weck die Geister, kleide sie ein. Wenn sie tanzen, wirst du glücklich sein. Dreimal sagst du das. Aber versprich dich nicht, sonst wirst du zur Qualle.“ […] Der Meergeist verschwindet in der Dose und kommt auch nicht heraus, als ich sie schüttle und gegen die Wand klopfe. „Jonas!“ Mama steht am Strand und winkt mit dem Eis. Langsam wate1 ich zu ihr und frage mich, wie ich wissen soll, wann der Stern des silbernen Delfins am hellsten scheint. […] Mitten in der Nacht wache ich auf. Es ist stockdunkel. Leise schleiche ich mich zum Zeltausgang. Hoffentlich ist der richtige Zeitpunkt noch nicht vorbei! Draußen taste ich nach der Dose, die ich neben dem Zelt versteckt habe. „Na endlich, beeil dich!“, sagt der Meergeist […]. Unzählige Sterne und ein halber Mond beleuchten die Nacht. „Weißt du noch, was du sagen musst?“, fragt der Meergeist. „Klar. Meer, Meer, Meergeisters Meer, weck die Geister …“ […] Ich stehe am Strand. „Geh weiter, geh ins Wasser“, drängt der Meergeist. Das Meer ist ganz dunkel. Der Meergeist zappelt aufgeregt hin und her. „Der Stern! Los jetzt! Es ist Zeit.“ Mein Herz klopft so laut, dass es beinahe das Rauschen der Wellen übertönt. Ich mache einen Schritt. Und noch einen. „Weiter, weiter“, drängelt der Meergeist. Als ich bis zur Hüfte im Wasser stehe, ist er zufrieden. „Und jetzt den Spruch.“ […] Einmal, zweimal, dreimal wiederhole ich den Spruch, und es geht alles gut, bis auf das letzte Wort. Da rutscht mir ein „mein“ heraus statt „sein“. Im Licht der Sterne sehe ich, wie sich der Lappen in ein Wölkchen zurückverwandelt. Doch an einer Stelle bleibt das Wölkchen ein bisschen zipfelig, als wäre es dort ein rosa Spüllappen geblieben. „Wirf mich zurück ins Meer!“, fordert der Meergeist. Ich hole weit aus. Das Wasser spritzt, dann beruhigen sich die Wellen und ich bin allein. Mama wird staunen, wenn sie morgen meinen nassen Schlafanzug entdeckt. Und Tobi – er kann mir über Meergeister so schnell nichts mehr erzählen. Weil: Der hat ja keine Ahnung! Quelle: Karin Grüning: Der Meergeist aus der Dose. In: DER BUNTE HUND. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg, Juli/August 2008 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 Märchen und Sagen Markiere im Text die Stellen, in denen beschrieben wird, wie der Meergeist aussieht und wie er sich im Lauf der Geschichte verändert. Besprich mit deiner Sitznachbarin bzw. deinem Sitznachbarn, wie sich der Meergeist gegenüber Tobi verhält. Beurteilt seine Art, mit Tobi umzugehen. Überlegt gemeinsam: Ist dieser Text ein Märchen, eine Sage oder etwas anderes? Begründet eure Entscheidung. 1 2 C C 3 1) im Nassen gehen 39 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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