Karin Grüning: Der Meergeist aus der Dose Eigentlich ist es ja nur eine leere Getränkedose, aber Tobi behauptet, dass darin ein Meergeist haust. Tobi ist zwölf und weiß immer alles besser als ich. Es ist nicht einfach, einen älteren Bruder zu haben. Ich versuche, in die Dose zu schauen. „Da wohnt kein Meergeist.“ „Du hast ja keine Ahnung.“ Tobi nimmt mir die Dose aus der Hand. „Dieser hier ist sicher stinksauer auf dich.“ Ich zucke mit den Achseln und tu so, als ob mir das völlig egal sei. „Meergeister gibt es gar nicht. Und überhaupt – ich habe ihm nichts getan.“ Tobi schaut mich mitleidig an. „Was meinst du, wie er sich fühlt, wenn seine Behausung an Land gespült und von einem Hohlkopf wie dir belüftet wird?“ Ich habe nichts „belüftet“, sondern nur das Wasser ausgeleert, das sich in dem Blechding angesammelt hat. Tobi drückt die Dose auf die Mauern meiner Sandburg. „Jetzt hast du ein eigenes Schlossgespenst!“ Er lacht und hüpft davon. Misstrauisch beäuge ich die Dose. Sie ist verbeult und sieht ziemlich schäbig aus. Kein Meergeist mit Verstand würde sich so eine Wohnung suchen. Nach kurzem Zögern packe ich das verbeulte Ding und hole aus, um es zurück ins Meer zu schleudern. „Halt!“ Mama liegt auf ihrem Handtuch und sonnt sich, Papa schläft hinter der Zeitung, Tobis Haarschopf ist nirgends zu sehen und trotzdem höre ich schon wieder diese Stimme. „Lass das, du vertrocknete Landmakrele!“ Ich muss meinen ganzen Mut zusammennehmen, um an meinem Arm entlangzuschauen. Aus dem Trinkschlitz der Dose wabert etwas Grünlichweißliches. Ich lasse die Dose fallen, als wäre sie kochend heiß. […] Ich kann gar nichts sagen, sondern starre in den Burggraben meiner Sandburg. Dort liegt die Dose und das grünweiße Wölkchen ist immer noch da. Es windet sich nach links und nach rechts. „Bist du der Dummkopf, der mich beinahe ins Meer geworfen hätte? Steh nicht rum wie ein festgerostetes Schiffswrack, hilf mir lieber.“ „Was soll ich denn tun?“ […] „Siehst du die Sandkörner, die an mir kleben? Meerwasser brauche ich, aber schnell!“ „Mit wem redest du, Jonas?“ Mama setzt sich auf und schaut zu mir herüber. „Hast du Muschelkleister in den Ohren?“, schreit das weißgrüne Etwas. „Ich brauche Wasser!“ „Jonas, möchtest du ein Eis?“, fragt Mama. Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich mich umdrehe und sehe, dass sie aufsteht und zu mir kommt. Schnell schaufle ich Sand auf die Getränkedose, bis nichts mehr zu sehen ist von dem komischen Wesen. […] Mama wuschelt mir durchs Haar, als wäre ich immer noch ihr Baby. „Spiel schön weiter, ich bring dir ein Erdbeereis, ja?“ „Ja.“ Mir ist alles recht, Hauptsache, Mama geht schnell wieder. Kaum dreht sie mir den Rücken zu, buddle ich die Dose wieder aus. Das grünweiße Wesen sieht aus wie eine angebissene Birne, die in den Sand gefallen ist. „Wasser“, röchelt es, „Wasser.“ Ich renne zu Mamas Handtuch. Sie hat immer eine Flasche Mineralwasser in ihrer Tasche. Schnell schraube ich die Flasche auf und leere den Inhalt über den Meergeist. Es schäumt und zischt. „Neeeiiiinnn!“ Dort, wo vorhin die panierte Birne aus der Dose waberte, hängt nun ein rosarotes Ding. Es erinnert mich an gefrorene Zuckerwatte, wenn es so etwas überhaupt gibt. „Meergeist?“, frage ich. „Eeeh, eh, eh, ehhh.“ Ich beuge mich über die Dose. „Was hast du gesagt?“ „EEEH! EH, EH, EHHH!“ […] 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Ein moderner Seegeist – Märchen, Sage oder was? 38 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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