Treffpunkt Deutsch 1 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

Märchen und Sagen Schon bei den letzten Worten verblasste das unirdische6 Bild, und dann war alles dunkel wie vorher. Die Fischer glaubten geträumt zu haben. So angestrengt sie auch in die Nacht hinausstarrten, es war nichts mehr zu sehen. […] „Komm“, rüttelte der Alte den Sohn aus seiner Versunkenheit auf, „wir wollen uns beeilen und auch die Nachbarn warnen. Packe du zusammen, was wir zum Leben nötig haben, ich will das Fischzeug nehmen. Wenn das Wasser kommt, finden wir von allem nichts mehr vor.“ Im Vorbeigehen klopften sie bei den anderen Fischerhütten an: „Nachbar, pack deine Sachen zusammen und bring dich und deine Familie in Sicherheit. Das Donauweibchen ist uns erschienen und hat uns gewarnt.“ Bei Morgengrauen kam der Südwind. Hei, wie brauste er über den Strom! Regen fiel endlos auf das winterliche Land, der Schnee schmolz, und das berstende, krachende Eis der Donau wurde von den befreiten Wassern gegen Osten geführt. Tags darauf waren die Niederungen weithin überschwemmt. Ein riesiger, flutender See bedeckte die Donauauen, und nur ab und zu ragte der Schornstein einer Hütte oder eine kahle Baumkrone über die sprudelnden Wasser. Wie dankbar waren die Menschen nun für den Rat des Donauweibchens, wie glücklich, dass sie ihn befolgt hatten. Als der Frühling ins Land gezogen, das Wasser wieder in sein Strombett zurückgekehrt und die Welt von Blumen und Blüten übersät war, hatten die Fischersleute ihre Hütten so weit vom Schlamm befreit, dass sie wieder darin wohnen konnten. Alles schien wie vordem. Nur der Jüngling, dem das Donauweibchen erschienen war, hatte seine Fröhlichkeit verloren. Traurig und verträumt ging er umher, saß stundenlang am Ufer des Flusses und schaute in die strömenden Fluten. […] Mit Sorge beobachtete der Vater seinen jungen Sohn. Er ahnte wohl, was in ihm vorging, aber er wusste auch, dass da alles Raten und Warnen vergebens war. An einem heißen Sommerabend ging der Jüngling allein ans Ufer, kettete das Boot los und stieß es mit langsamen Ruderschlägen in den Strom hinaus. In der Mitte angekommen, hängte er seine Netze in das Wasser. Dann legte er sich in den Kahn und ließ ihn von den Wellen treiben. Auf den Wogen spiegelte sich weiß das Mondlicht, und es war dem Jüngling, als sähe er bis auf den Grund des Wassers, wo im grünen Dämmer das Schloss des Nixenkönigs stand. Wo war das Donauweibchen? Wo? Und warum hatte es sich vor ihm verborgen? – Am nächsten Morgen fanden Fischer den leeren Kahn weit unten am Ufer, und als sie das Netz einzogen, lag darin, zwischen zappelnden Fischen, ein Kranz von Wasserrosen. Quelle: Das große Buch der Österreichsagen. Neu erzählt von Gretl Voelter. Innsbruck: Pinguin Verlag, 1988 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 1) Residenz: Wohnort 2) Hofstaat: das Gefolge des Königs 3) Schilfhain: Wald aus Schilfrohr 4) jemandem verfallen sein: sich verliebt haben 5) Kahn: kleines Boot 6) unirdisch: nicht von dieser Welt Sagen haben einen wahren Kern. Sie handeln von einer bekannten Person aus der Geschichte, von einer bestimmten Landschaft, wie einem Berg, einem See. Finde den wahren Kern dieser Sage. Recherchiere in einem Lexikon, im Internet oder frage im Geografieunterricht, wie die Donau früher ausgesehen hat und was die Menschen an ihr verändert haben. Überlege dir, wie es dem jungen Fischersohn bei der Wassernixe erging. Notiere dir zuerst Stichworte und schreibe eine kurze Erzählung darüber. Vergiss die Überschrift nicht. 1 2 3 N 37 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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