Treffpunkt Deutsch 1 - Deutsch Sprachlehre, Leseheft

Das Donauweibchen Eine Sage aus Österreich Auf dem Grunde der Donau herrschte vor langer Zeit der Nixenkönig über ein großes Reich. In des mächtig dahinfließenden Stromes Mitte stand sein Schloss aus blaugrünem Kristall, und seine unzähligen Säle und Zimmer waren mit Perlen und Edelsteinen geschmückt, die durch das Dämmerlicht des Wassers leuchteten. Kostbare Kuppeldächer aus goldenen Fischschuppen krönten seine stille Residenz1. Weithin breiteten sich Muschelgärten, und auf den perlmutternen Wegen spielten und tanzten die Donauweibchen, des Nixenkönigs liebliche Töchter. Ein Hofstaat2 von regenbogenfarbigen Fischen umgab sie und folgte ihnen überallhin. So schwebten sie flussauf und flussab über dämmerige Algenfelder, schlängelten sich blitzschnell durch uralte Schilfhaine3 und glitten über Wiesen mit schaukelnden Seerosen. Manchmal aber, so geht die Sage, erfüllte eine übermächtige Sehnsucht nach der Menschenwelt die Wasserjungfrauen. Wenn der Mond voll am Himmel stand und abertausend silberne Sterne funkelten, tauchten sie aus den Wellen empor und schwammen zum Ufer hin. Wehe dann dem Jüngling, der sie erblickte! Er war ihnen verfallen4 und keine Macht der Erde konnte ihn vor dem Verderben schützen. Einst lebte ein alter Fischer mit seinem Sohn in einer armseligen Hütte am Ufer der Donau. Die beiden verdienten ihr Brot mit mühsamer Arbeit, aber sie waren fröhlich und zufrieden. Tagein, tagaus, bei jedem Wetter fuhren sie mit ihrem Kahn5 auf den Strom hinaus, ließen das Netz zu Wasser und schleppten dann in aller Frühe den Fang auf ihrem Rücken zum Markt in der Stadt. Im Winter, wenn die Donau dumpf brausend unter dem Eise dahinfloss, brachten sie ihre Geräte in Ordnung, damit sie im Frühling gleich wieder mit dem Fischen beginnen konnten. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Das Donauweibchen – Wie eine Sage entstehen kann So saßen sie auch an einem Winterabend neben dem rotglühenden Ofen und flickten ihre Netze, während draußen ein eisiger Ostwind an den Fensterbalken rüttelte. „Vater, erzähl mir doch wieder die alten Geschichten, die Zeit will mir heute gar nicht vergehen“, bat der Sohn. „Ja gern“, brummte der Alte, „welche willst du denn hören?“ […] „Ach Vater“, sagte der Junge versonnen, „erzähl mir die Geschichte vom Donauweibchen.“ Und der Alte begann die Erzählung von den sagenhaften Wasserjungfrauen, wie er selber sie von seinem Vater gehört hatte. Da sprang plötzlich die Türe auf, der Wind fuhr fauchend in die Hütte und aus dem Dunkel der Nacht trat ein Wesen von wunderbarer Schönheit. Ein sanfter grüner Schein ging von ihm aus, und der Mond, der ab und zu durch die jagenden Wolken schien, ließ das lange, perlengeschmückte Haar aufleuchten. Sein Strahl glitt über die Schleiergewänder, die eine herrliche Gestalt umhüllten, er legte sich silbern über den Stubenboden und funkelte in den Wassertropfen, die aus dem Saum des Kleides perlten. „Fürchtet euch nicht!“, sprach die Erscheinung mit glockenheller Stimme, „ich bin ein Donauweibchen und komme, um euch zu warnen. Der Südwind braust auf Sturmesflügeln herbei und wird in wenigen Stunden in meines Vater Schloss zu Gast sein. Zum Feste seiner Ankunft bricht das Eis, und die Donau wird beide Ufer weithin überfluten. Von euren Hütten wird dann bald nichts mehr zu sehen sein. Rettet euch, solange es noch Zeit ist.“ 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 36 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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