Lies oder höre dir an, wie sich der Meisterdetektiv Sherlock Holmes und sein Bruder Mycroft über ihre Schwester Enola unterhalten. Mai 1889 „Über acht Monate sind inzwischen vergangen, seit das Mädchen verschwunden ist –“ „Das Mädchen hat einen Namen, mein lieber Mycroft“, unterbricht Sherlock, lediglich mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme, ist er sich doch dessen bewusst, bei seinem Bruder zum Abendessen zu Gast zu sein. […] „Enola. Zudem ist sie leider nicht im üblichen Sinn des Wortes verschwunden“, fügt Sherlock leiser, fast schon launisch hinzu. „Sie hat rebelliert, ist ausgebüxt und hat alles darangesetzt, uns immer wieder durch die Lappen zu gehen.“ „Und das ist noch lange nicht alles, was sie getan hat. […] Während dieser acht Monate war sie maßgeblich an der Rettung dreier vermisster Personen beteiligt – und daran, drei gefährliche Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ „Das ist mir nicht entgangen“, räumt Sherlock ein. „Und“? „Fällt dir an ihrem Tun kein höchst alarmierendes Muster auf?“ „Durchaus nicht. Purer Zufall. Über den Fall des Lord Basilwether ist sie nur gestolpert. Lady Cecily Alistair lief ihr gewissermaßen in die Arme […] und –“ „Und rein zufällig konnte sie den Entführer identifizieren?“ Sherlock begegnete Mycrofts bissigem Kommentar mit einem harten Blick. „Und, wie ich gerade sagen wollte, was Watsons Verschwinden betrifft – hätte sie sich wohl kaum daran beteiligt, wäre seine Verbindung zu mir nicht allgemein bekannt.“ „Du weißt nicht, wie oder warum sie sich eingemischt hat. Du weißt nicht einmal, wie sie ihn gefunden hat.“ „Nein“, gibt Sherlock Holmes zu. „Das tue ich nicht. […] Und es ist nicht das erste Mal, dass sie mich übertölpelt hat“, sagt er beinahe stolz. „Pah. Was sollen ihre Tricks und ihre Kühnheit schon bringen, wenn sie erst eine Frau ist?“ „Wenig, vermute ich. Sie ist wahrhaft die Tochter unserer frauenrechtlerischen Mutter.“ […] „Was soll in ein paar Jahren aus ihr werden? Kein Gentleman, der etwas auf sich hält, wird eine solch unabhängige junge Frau heiraten, die sich für kriminelle Machenschaften interessiert.“ „Sie ist er vierzehn, Mycroft“, erinnert Sherlock seinen Bruder geduldig. […] Mycroft hebt seine dornbuschigen Augenbrauen. „Du glaubst, sie wird sich am Ende den Erwartungen der Gesellschaft beugen?“ […] „Sie ist weiblich, mein lieber Mycroft. Die biologischen Notwendigkeiten ihres Geschlechts drängen sie dazu, sich ein Nest zu bauen und fortzupflanzen. Sobald sie beginnt, zu einer Frau zu reifen, wird sie zwangsweise –“ „Pah! Mumpitz!“ Mycroft kann seine Schroffheit nicht länger zügeln. „Glaubst du im Ernst, unsere widerspenstige Schwester wird sich dazu herablassen, einen Ehemann zu finden –“ „Himmel, was soll sie denn sonst tun?“, erwidert Sherlock, ein wenig verletzt. […] „Womöglich eine lebenslange Karriere anstreben, vermisste Personen zu finden und Bösewichte aufzuspüren?“ Quelle: Nancy Springer: Der Fall des geheimnisvollen Fächers. 1 8v752d 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Geschlechterdifferenzen – andere Perspektiven einnehmen 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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