Die Geschichte von den Schildbürgern Die erstaunlichen Taten der Bürger von Schilda – eine Schildbürgergeschichte untersuchen Im Mittelalter, damals, als man das Schießpulver noch nicht erfunden hatte, lag mitten in Deutschland eine Stadt, die Schilda hieß, und ihre Einwohner nannte man deshalb die Schildbürger. Das waren merkwürdige Leute. Alles, was sie anpackten, machten sie verkehrt. Und alles, was man ihnen sagte, nahmen sie wörtlich. Wenn zum Beispiel ein Fremder ärgerlich ausrief: »Ihr habt ja ein Brett vorm Kopf! «, griffen sie sich auch schon an die Stirn und wollten das Brett wegnehmen. […] Soviel Dummheit brachte manchen durchreisenden Kaufmann der Verzweiflung nahe. Andre wieder lachten sich darüber halbtot. Und mit der Zeit lachte, zu guter Letzt, das ganze Land. […] An dieser Stelle muss ich euch ein Geheimnis anvertrauen. Es heißt: So dumm kann man nicht sein! Daraus folgt einwandfrei, dass auch die Schildbürger nicht so dumm waren, sondern dass sie sich nur so dumm stellten! Das ist natürlich ein großer Unterschied! […] Und wer unter euch scharf nachdenken kann, der wird mich etwas ganz Bestimmtes fragen wollen. […] »Warum stellten sich die Schildbürger eigentlich so dumm? Warum und wozu? Was hatten sie davon?« […] Lange, sehr lange bevor die Schildbürger durch ihre sprichwörtliche Dummheit berühmt wurden, waren sie, im Gegenteil, fleißig, tüchtig, beherzt und aufgeweckt. […] Das sprach sich bald herum. Und wenn man sich anderswo keinen Rat mehr wusste, schickte man einen berittenen Boten nach Schilda, dass er Ratschläge einhole. […] So gingen immer mehr Schildbürger ins Ausland, erwarben sich draußen Rang, Ehren und Orden und sandten regelmäßig Geld nach Hause. Ruhm, Geld und Titel sind ganz gut und ganz schön. Aber in Schilda selber ging es mittlerweile drunter und drüber. Da die Männer nicht daheim waren, mussten, statt ihrer, die Frauen pflügen, säen und ernten. […] Die Frauen mussten die Kinder unterrichten, […] die Predigten halten, die Scheunen ausbessern, die Diebe einsperren, […] die Wiesen mähen, die Dächer decken und abends im Wirtshaus »Zum Roten Ochsen« sitzen. Das war zuviel! […]. Da schrieben sie ihren Männern einen wütenden Brief, worin zu lesen stand, warum und wieso sie nicht länger ein noch aus wüssten und die Männer sollten sich schleunigst heimscheren! Da kriegten die Männer einen Heidenschreck, verabschiedeten sich hastig von ihren tiefbetrübten Königen und Kurfürsten und vom Sultan und fuhren, aus allen Himmelsrichtungen, mit der Extrapost nach Hause zurück. Hier schlugen sie erst einmal die Hände überm Kopf zusammen. Sie kannten ihr Schilda gar nicht wieder. […] Ein paar Tage später trafen sie sich im »Roten Ochsen«, tranken Bier [und] klagten einander ihr Leid […]. Draußen vorm Gasthof standen schon wieder fünf Gesandte […] und baten um Gehör. […] Dann steckte der Ochsenwirt den Kopf durchs Fenster und rief: »Wir haben leider alle den Keuchhusten!« Da kletterten die fünf Gesandten auf ihre fünf Pferde und 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 132 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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