am Puls 8, Schulbuch

99 Evolution des Menschen Die Evolution des Menschen verlief nicht geradlinig Was wir über die Evolution des Menschen wissen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gründlich gewandelt. Aufgrund von unzähligen neuen Fossilfunden hat sich die Artenzahl der bekannten Hominiden vervielfacht! Bei Lucys Entdeckung dachten die meisten Forscherinnen und Forscher noch, dass die Evolution des Menschen relativ geradlinig verlaufen war, von Australopithecus über Homo erectus hin zu Homo sapiens. Jüngere Fossilfunde zeichnen allerdings ein weitaus komplexeres Bild der menschlichen Evolution: Mehrere Australopithecus-Arten haben offensichtlich gleichzeitig existiert. Dasselbe gilt für mehrere Homo-Arten, die teilweise mit Homo sapiens Nachkommen zeugten (siehe S. 97 und S. 105). Außerdem wurden weitere ältere Arten von Hominiden entdeckt, die weder in die Gattung Homo noch in die Gattung Australopithecus passten. Diese Erkenntnisse tragen zu einem Verständnis dafür bei, dass die Evolution des Menschen nicht entlang einer Linie, sondern eher weit verzweigt verlief. Die erste Australopithecus-Art, Australopithecus africanus1, wurde bereits 1925 beschrieben und Lucy (siehe S. 92) schließlich 1974. In den 1990er Jahren kam es zur Entdeckung von gleich mehreren neuen Australopithecinen. In Kenia wurde Australopithecus anamensis2 beschrieben (kAbb. 11), eine Art, die weitaus alter ist als Lucy (Australopithecus afarensis3) – und zwar ca. 4 Mio. Jahre. Weiters wurde Australopithecus bahrelghazali4 im Tschad und Australopithecus garhi5 in Athiopien entdeckt. Schließlich stieß Kenyanthropus platyops6, ein mindestens 3,5 Mio. alter Vormensch, entdeckt in Kenia, dazu. Wiederum in der Afar-Region wurden Ardipithecus ramidus7 (kAbb. 11) und Ardipithecus kadabba8 entdeckt. Bei Ardipithecus handelt es sich um einen Vormenschen, der vor 4–5 Mio. Jahren lebte und der keinen Greiffuß wie ein Schimpanse besaß, sondern einen Fuß, der zum aufrechten Gehen geeignet war, mit einer weit abspreizbaren großen Zehe. Zuvor hatte man angenommen, dass der gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch wohl einen Greiffuß wie die Schimpansen besaß. Dies stellt der Fund von Ardipithecus aufgrund seines Alters in Frage. Die bisher ältesten gefundenen Hominiden-­ Fossilien stammen von Orrorin tugenensis9, der vor 6 Mio. Jahren lebte und 2000 in Kenia entdeckt wurde, sowie von Sahelanthropus tchadensis10, entdeckt 2001 im Tschad und der vor 7 Mio. Jahren lebte (kAbb. 11). Beide konnten vermutlich bereits stückweise aufrecht gehen und beide besaßen Eigenschaften, die auch bei Homo vorkommen. Eine dieser beiden Arten könnte daher möglicherweise der direkte Vorfahre des modernen Menschen gewesen sein. Die Geschichte der Evolution des modernen Menschen muss neuen Funden entsprechend laufend adaptiert werden Variabilität, Verwandtschaft, Geschichte und Evolution Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass es zur Verzweigung unterschiedlicher Hominiden-Linien kam. Die Evolution des modernen Menschen verlief daher keineswegs geradlinig. Abb.11: Rekonstruktionen von Sahelanthropus tchadensis, Ardipithecus ramidus und Australopithecus anamensis. Die Abbildungen zeigen künstlerische Interpretationen basierend auf dem erhaltenen Skelettmaterial. So ähnlich dürften die Vertreter dieser drei Hominiden-Arten ausgesehen haben. 1 Australopithecus africanus: australis (lat.) = südlich, píthēkos (gr.) = Affe; africanus (lat.) = aus Afrika; „südlicher Affe aus Afrika“ 2 Australopithecus anamensis: anam (Turkana-Sprache) = See; „südlicher Affe aus dem Seengebiet“ 3 Australopithecus afarensis: „südlicher Affe aus der Afar-Region“ 4 Australopithecus bahrelghazali: Bahr el Ghazal (arab.) = „Fluss der Gazellen“; Die Fossilien wurden in Bahr el Ghazal im Tschad gefunden; „südlicher Affe aus der Bahr-el-Ghazal-Region“ 5 Australopithecus garhi: garhi (Afar-Sprache) = Überraschung; Der Name wurde gewählt, weil die Wissenschafter über den Schädel mit den enormen Backenzähnen überrascht waren; „südlicher Affe mit dem überraschenden Schädel“ 6 Kenyanthropus platyops: Kenyanthropus (gr.) = Mann aus Kenya, platus (gr.) = flach, opsis (gr.) = Gesicht; „flachgesichtiger Mann aus Kenya“ 7 Ardipithecus ramidus: ardi (Afar-Sprache) = Boden, Grund, píthēkos (gr.) = Affe, ramid (Afar-Sprache) = Wurzel; „Bodenaffe an der Wurzel des Menschen“ 8 Ardipithecus kadabba: kaddaba (Afar-Sprache) = ältester Vorfahre; „ältester Bodenaffe“ 9 Orrorin tugenensis: Orrorin (Tugen-Sprache) = ursprünglicher Mensch, tugenenesis verweist auf den Fundort in den Tugen-Hügeln von Kenya; „ursprünglicher Mensch aus den Tugen-Hügeln“ 10 Sahelanthropus tchadensis: Sahel verweist auf den Fundort Sahel, südlich der Sahara, anthropus (gr.) = Mensch, tchadensis verweist auf den Tschad, das Land, in dem sämtliche Fossilien dieser Art gefunden wurden; „Sahel-Mann aus dem Tschad” Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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