76 Die Synthetische Evolutionstheorie Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit Darwins, war der Prozess, durch den die Erbinformation von den Eltern auf die Nachkommen übertragen wird, unbekannt. Darwin glaubte noch, dass sich die Merkmale beider Eltern bei den Nachkommen mischen, so wie sich zwei Flüssigkeiten mischen. Wäre das der Fall, so würden neue Eigenschaften, die durch Mutationen entstehen, sofort wieder „verdünnt“ werden und könnten sich niemals etablieren. Um 1900 wurden schließlich Mendels Ergebnisse wiederentdeckt. Mendel hatte einen Vererbungsmechanismus gefunden, der erklären konnte, warum sich Merkmale nicht mehr und mehr miteinander vermischen. Im 20. Jahrhundert wurden die Ergebnisse zur Vererbung von Gregor Mendel (siehe S. 42) mit Darwins Selektionstheorie in Einklang gebracht. Die daraus hervorgehende Synthetische Evolutionstheorie stellte die Evolutionsbiologie auf ein neues, rigoroses Fundament. Die Synthetische Theorie wurde zur Basis für die darauf folgende Forschung: Mit Hilfe der neuen Theorie konnte erklärt werden, wie evolutionäre Veränderung und Anpassung in Populationen, das heißt in Gruppen von Individuen derselben Art, die sich miteinander fortpflanzen, geschieht. Auch im 20. Jahrhundert machte die Genetik erhebliche Fortschritte. Es wurde geklärt, dass Chromosomen das Material der Erbinformation enthalten. 1953 wurde die Struktur der DNA aufgeklärt. So wurde Darwins Theorie im 20. Jahrhundert durch die Genetik gestärkt, vertieft und erweitert. Obwohl die Synthetische Evolutionstheorie die Evolution von Populationen gut beschreiben konnte, blieben manche Fragen unbeantwortet. Die Entwicklungsbiologie blieb zB völlig unbeachtet (siehe S. 79 ff.). Auch der Beitrag der Symbiose in der Evolution blieb ausgeklammert (siehe S. 70). Die Synthetische Evolutionstheorie konnte Mendels Vererbungsmechanismen mit Darwins Selektionstheorie in Einklang bringen Evolutionäre Entwicklungsbiologie Die Evolutionäre Entwicklungsbiologie beschäftigt sich mit der Evolution von Entwicklungsprozessen. Bereits Darwin war, aufgrund der Ergebnisse anderer Forscher des 19. Jahrhunderts, insbesondere Ernst Haeckel1 und Karl Ernst von Baer2, bekannt, dass die fruhe Entwicklung von Embryonen bei Arten, die miteinander verwandt waren, sehr ahnlich verlief. In den 1980er Jahren wurden schließlich revolutionäre Entdeckungen gemacht: Es wurde geklärt, dass nur wenige Gene im Genom eines Organismus die Embryonalentwicklung steuern. Diese sind bei allen Eukaryoten annähernd ident, also auch bei so unterschiedlichen Gruppen wie zB Pilzen, Gliederfüßern und Wirbeltieren. Diese Gene blieben über Jahrmillionen der Evolution konserviert! Wie in Kapitel 1 (siehe S. 10 ff.) beschrieben wurde, haben viele Gene eine regulative Funktion, das heißt, viele Gene wirken als Schalter in einem Gen-Netzwerk und können andere Gene ein- und ausschalten. Dadurch haben solche Gene Einfluss auf viele Merkmale gleichzeitig. Zufällige Mutationen an irgendeiner Stelle des Netzwerks, das für die Entwicklung eines Embryos verantwortlich ist, behindern meist die Funktionalität. Stell dir vor, man würde einen beliebigen Bauteil eines Computers verändern. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Gerät dann nach wie vor funktioniert. Aus diesem Grund wurden jene Gene, die die Embryonalentwicklung kontrollieren, über Jahrmillionen durch natürliche Selektion kaum verändert. Heute weiß man, dass die Mendelschen Regeln also einen Sonderfall beschreiben: Nur wenige Merkmale werden von einem einzigen Gen kontrolliert. Viele Merkmale sind hingegen das Produkt von Gen-Netzwerken. Die Giraffe hat also kein Gen für einen langen Hals, sondern Schalter-Gene lassen dabei gewisse Entwicklungsschritte, die zum Wachstum eines langen Halses führen, in Teilen des Körpers länger andauern. Mutationen, die regulative Gene betreffen, können auch völlig neue Strukturen im Körper erzeugen (kAbb. 11). Diese liefern so wiederum das Rohmaterial für die nächsten Schritte der Evolution. Die Evolutionstheorie ist bewiesen, da unzählige Fakten belegen, dass die Vielfalt der Organismen auf der Erde durch Evolution entstanden ist und dass Arten veränderlich sind. Die Details der Evolutionsmechanismen aber sind nach wie vor Objekt der aktuellen Forschung. 1 Ernst Haeckel: deutscher Mediziner und Zoologe, 1834– 1919 2 Karl Ernst von Baer: deutscher Mediziner, 1979–1976 Nur wenige Gene im Organismus steuern die Embryonalentwicklung Abb.11: Völlig neue Strukturen, wie diese Augenflecken auf Schmetterlingsflügeln, können durch Mutationen entstehen, die regulatorische Gene betreffen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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