109 Die Entstehung der Artenvielfalt 5.1 Die Entstehung der Artenvielfalt Was ist eine Art? Du hast im vorigen Semester gelernt, nach welchen Mechanismen Evolution erfolgt. Lebewesen zeigen eine gewisse Variabilität, die als Grundlage für die Selektion dient: Je nach Umweltbedingungen überleben die Bestangepassten. Dazu kommen Zufallsfaktoren wie die genetische Drift. So weit, so gut. Doch wie kommt es dazu, dass neue Arten entstehen? Und was ist das überhaupt – eine Art? In der Systematik ist eine Art zunächst einmal eine bestimmte Kategorie: Mehrere Arten werden zu einer Gattung zusammengefasst, Gattungen zu Familien, diese zu Ordnungen, weiter zu Klassen, dann Stämmen, Reichen und Domänen. Diese Einteilung ist nützlich für das Erstellen von Stammbäumen, definiert aber nicht die Art. Und tatsächlich ist diese auch gar nicht so leicht zu definieren. Denn eine biologische „Art“ ist nichts starr Festgelegtes. Es ist eine Momentaufnahme von Populationen, die ständig im Fluss sind. Diese Dynamik macht es schwierig zu definieren, was denn eine „Art“ ausmacht und wie sie abgegrenzt ist. Dazu können Arten nach verschiedenen Kriterien definiert werden. Eines haben alle Artbegriffe gemeinsam: Jede biologische Art wird fachlich über die von Carl von Linné1 im 18. Jahrhundert begründete binäre Nomenklatur benannt: Der Artname setzt sich aus dem Namen der Gattung, der mit einem Großbuchstaben beginnt, und dem Zusatz für die jeweilige Art, der mit einem Kleinbuchstaben beginnt, zusammen, zB Homo sapiens für den Menschen. Die Definition einer Art kann nach verschiedenen Kriterien erfolgen Variabilität, Verwandtschaft, Geschichte und Evolution Nicht nur die Definition der Art ist schwierig, die anderen Kategorien sind noch weniger exakt festgelegt. Die Art ist sogar die eindeutigste Kategorie, wie die hier vorgestellten Definitionen zeigen. Äußere Merkmale können zur Definition der Art verwendet werden Kann man nicht einfach alle Individuen, die gleich aussehen, als Art definieren? Bei Hunden führt dies zu Schwierigkeiten: Alle Haushunde gehören, ebenso wie der Wolf, zur Art Canis lupus und doch sehen ein Wolf, ein Dalmatiner und ein Yorkshire Terrier sehr unterschiedlich aus. Äußerliche Merkmale sind also in manchen Fällen wenig geeignet, um Lebewesen in Arten einzuteilen (kAbb. 1). Eine solche Einteilung kann aber sinnvoll sein, wenn man die richtigen Merkmale heranzieht. Bei Marienkäferarten sind zB die Hartteile des Geschlechtsapparats deutlich unterschiedlich, aber artspezifisch. Da Zwischenformen fehlen, ist es wahrscheinlich, dass jeder Typ einer eigenen Art zuzuschreiben ist. Andere Beispiele für morphologische2 Merkmale, die zur Artabgrenzung dienen, sind Gebissdetails bei Säugetieren, Flossendetails bei Fischen oder Bein- und Flugeldetails bei Insekten. So kommt man zum morphologischen Artbegriff: Arten sind Gruppen von Individuen, die sich anhand morphologischer Merkmale zuverlässig voneinander unterscheiden lassen. Arten, die gemäß dieser Definition festgelegt sind, nennt man auch Morphospezies. Bestimmungsbücher arbeiten mit diesem Artbegriff, und auch fossile Arten können nur nach diesem eingeordnet werden. Die Abgrenzung nach morphologischen Merkmalen bleibt aber problematisch. Wie deutlich müssen Unterschiede sein, damit man eine neue Art abgrenzt? DNA-Vergleiche (phylogenetischer Artbegriff; siehe S. 110) zeigen zudem, dass äußerlich annährend identische Individuen manchmal genetisch so unterschiedlich sind, dass sie mehreren Arten zugeordnet werden müssen. In diesem Fall spricht man von mehreren kryptischen Arten oder Kryptospezies3. 1 Carl von Linné: schwedischer Naturforscher, 1707–1778 2 Morphologie: morphe (griech.) = Gestalt, Form; bezeichnet die Lehre von der Gestalt, Form bzw. Struktur der Organismen 3 Kryptospezies: kryptos (griech.) = versteckt Die Morphospezies ist eine Art, die nach äußeren Merkmalen definiert ist Abb.1: Harlekinmarienkäfer oder Asiatischer Marienkäfer (Harmonia axyridis). Obwohl die hier gezeigten Tiere unterschiedliche Farbmuster zeigen, gehören sie alle zur selben Art. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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